Um diesen und andere Texte zu lesen, braucht es ein großes Hirn. Dafür sorgt auch eine Genfamilie, die der Gattung Homo eigen ist und bei Menschenaffen nicht vorkommt.
Foto: Newcastle University

Santa Cruz/Brüssel – Die Evolution größerer Gehirne in den vergangenen drei Millionen Jahren ist die Grundlage für die Fähigkeiten des Menschen bei der Lösung von Problem, wie zum Beispiel diesen Text zu lesen. Die genetischen Veränderungen, die die Expansion unseres Denkorgans vorantrieben, waren bisher allerdings weitgehend rätselhaft.

Das könnte sich nun geändert haben: Gleich zwei Forscherteams aus den USA und Belgien – David Haussler (University of California, Santa Cruz) und Pierre Vanderhaeghen (Freie Universität Brüssel) – haben eine Genfamilie genauer lokalisiert und analysiert, die offenbar eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der menschlichen Großhirnrinde spielt. Diese drei nahezu identischen Gene, die unter der Bezeichnung Notch2NL zusammengefasst werden, könnte die treibende Kraft hinter der Vergrößerung unserer Gehirne darstellen, schreiben die Wissenschafter im Fachjournal "Cell".

Differenzierungsbremse

Wie die Gruppe um Haussler im Vergleich der Genexpression von Menschen und Makaken herausfand, bremsen die Notch2NL-Gene einerseits die Differenzierung von kortikalen Stammzellen in Nervenzellen, was dazu führt, dass im Laufe der Entwicklung zur Produktion von mehr Neuronen führt. Die Gene sind ausschließlich dem Menschen vorbehalten. Orang-Utans fehlen sie völlig und bei unseren nächsten lebenden Verwandten, den Gorillas und Schimpansen, existieren nur verkürzte, inaktive Varianten dieser Gene.

Die Notch2NL-Genfamilie unterscheidet uns und unsere unmittelbaren Vorfahren von anderen Menschenaffen, die ein weniger großes Hirn haben.
Foto: Fiddes et al./Cell

Die Lage der Notch2NL-Gene im menschlichen Erbgut war bisher offenbar falsch beschrieben, wie die Forscher feststellten, als sie Mutationen bekannter neurologischer Störungen auf eine Verbindung mit den gefundenen Genen untersuchten. Denn diese liegen offenbar doch an genau der Stelle, deren Mutationen mit Krankheiten wie Autismus und ADHS assoziiert sind. Liegen die Gene zum Beispiel aufgrund von Mutationen in zu wenigen oder zu vielen Ausführungen vor, ergeben sich die Krankheitsbilder Mikro- und Makrozephalie – zu kleine und zu große Gehirne.

Folgenreiches Auftauchen

Die Genfamilie Notch2NL erschien der anderen, von Vanderhaeghen und Kollegen verfassten Studie zufolge erstmals vor drei bis vier Millionen Jahren – das bedeutet kurz vor jener Phase, in der Fossilien eine dramatische Vergrößerung der Gehirne bei den Vorfahren des Menschen anzeigen. Für ihre Studie pflanzten die Forscher Mäuseembryos menschliche Notch2NL-Gene ein und beobachten, wie sich dies auf die Hirnentwicklung auswirkte. Und tatsächlich: Die Zahl der Neuronen-Vorläuferzellen im Gehirn der Tiere stieg deutlich an.

Für Frank Edenhofer, Genomiker an der Uni Innsbruck, der an den Untersuchungen nicht beteiligt war, legen diese nahe, "dass die Spezies Mensch einen hohen Preis für die beschleunigte Gehirnentwicklung zahlen muss. Und zwar in Form eines genomischen Kompromisses": Einerseits würden mehrere Kopien von Notch2NL einen Zugewinn in der fetalen Entwicklung des Gehirns ermöglichen, zugleich aber auch die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Erbgutveränderungen erhöhen, welche uns Menschen für neuropsychiatrische Entwicklungsstörungen prädisponiert. (tberg/tasch, 2.6.2018)