Angespannte Aufmerksamkeit: Charlize Theron als gestresste Mutter in "Tully".

Foto: Thimfilm

Wien – Der Alltag ist Ausnahmezustand. Im Auto ein brüllendes Kind, ein nicht gerade glücklich verlaufendes Gespräch mit der Schulleiterin, ein liebenswerter, aber in praktischen Angelegenheiten unbrauchbarer Mann. Und vor allem der Bauch. Es ist ein riesiger Bauch. Aber wenigstens hat Marlo (Charlize Theron) in all dem schon Erfahrung. Das dritte Kind, sagen der reiche Bruder und seine tolle asiatische Frau, sei das unkomplizierteste. Kommt einfach so raus.

Der Film "Tully" von "Juno"-Regisseur Jason Reitman startet in den Kinos. Darin ist Oscar-Preisträgerin Charlize Theron als überforderte dreifache Mutter zu sehen, die von einer Nanny unterstützt wird.
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Bemerkenswert an dieser Ansammlung von Klischees ist der Umstand, dass sie stimmen. Vielleicht nicht so, wie dieser Film behauptet, aber so ganz an der Wirklichkeit vorbei gezielt ist das alles nicht. Wenn Marlo dann tatsächlich zum dritten Mal zum selben Zweck im Krankenhaus liegt, überwiegt auch dort Routine: höchste Zeit zum Pinkeln. Das Leben im Kreißsaal ist kein Kindergeburtstag.

Auch Tully ist, nach zwei gemeinsamen Arbeiten von Regisseur Jason Reitman und der Drehbuchautorin Diablo Cody, in gewisser Weise ein drittes Kind. Die gefeierte Tragikomödie Juno machte das Gespann populär, für Young Adult, eine bissige Satire rund um eine krisengebeutelte Provinzheimkehrerin, konnte man bereits Charlize Theron gewinnen. Und nun Tully, ein Film, den man sich ohne Theron irgendwie gar nicht so recht vorstellen kann – und will.

Windelwechsel im Stakkato

Spätestens seit ihren gerühmten Darstellungen in Monster als zum Tode verurteilte Mörderin und im Sozialdrama North Country gilt Theron als Aushängeschild eines routinierten Hollywoodrealismus, wenn es darum geht, dem Schönheitsideal von Frauenbildern den Kampf anzusagen. Falten und Fett erfüllen somit auch in Tully ihren Zweck.

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In seinen skizzenhaften Momenten einer permanenten Überforderung funktioniert Tully denn auch am besten und findet Reitman den passenden sarkastistischen Tonfall: Aufstehen, Abpumpen und Windelwechsel bestimmen stakkatoartig den Rhythmus der Nacht, der Grad der Erschöpfung steigt, die postnatale Depression naht.

Tatsächlich vor der Tür steht eines Abends jedoch Tully (Mackenzie Davis), eine gegen Marlos Willen von ihrem Bruder finanzierte Nachtnanny. Tully ist nicht mal halb so alt wie Marlo, sieht entsprechend aus und vollbringt neben dem nächtlichen Kinderdienst noch kleine Wunder. Frisch gebackene Cupcakes am Morgen zum Beispiel, oder einen nach acht Jahren zum ersten Mal wieder geschrubbten Fußboden. Reitman übernimmt den neuen Schwung in die Inszenierung, präsentiert Tully als eine Mischung zwischen cooler Mary Poppins und gutgelaunter Super Nanny. Und Marlos bald beste Freundin.

Ideologischer Baustein

Ausgerechnet dieses Naheverhältnis – man entdeckt denselben Musikgeschmack oder dieselben Dokusoaps – führt jedoch gleichzeitig zu ersten Irritationen. Denn verwandten Seelen haftet im Kino immer auch etwas Unheimliches an, weil es seit jeher vom Individualismus und der Freiheit des Einzelnen erzählt.

Verwandte Seelen: Nachtnanny Tully (Mackenzie Davis) und die hilfsbedürftige Marlo (Charlize Theron).
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Die Reitman und Cody bereits ereilte Kritik, Tully festige längst überholte Rollenbilder, indem ihr Film ein im Grunde reaktionäres Frauen- und Familienbild zeichne, ignoriert dieses fast eherne Gesetz des Mainstreamkinos. Die Rettung der Familie, nach wie vor einer der wichtigsten ideologischen Bausteine Hollywoods, fordert ihre Opfer – das für Marlo eben darin besteht, sich von der ihr zugeschriebenen Aufgabe und der Alleinverantwortung zu verabschieden.

Dass es nach diesem Kraftakt, der auch noch eine dramaturgische Volte schlägt, für Marlo ein Happyend geben sollte, kommt nicht überraschend. Ob es tatsächlich ein solches ist, sollte man selbst entscheiden. (Michael Pekler, 1.6.2018)