Küssen als politischer Aktivismus: 2016 veranstaltete die ÖH ein "Kiss-in" als Aktion gegen Homofeindlichkeit vor der Universität Wien.

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Studierende würden nicht mehr aufstehen für eine Sache, sie seien langweilig, angepasst, unkritisch. So weit die altbekannte Kritik. Nein, Christoph Prantner ist nicht der Erste, der sie so harsch formuliert ("Im Wartesaal des Lebens", der STANDARD). Und bestimmt auch nicht der Letzte. Doch wer die Studierenden von 1968 mit denen von heute vergleicht, muss auch die Rahmenbedingungen des Studiums und die Formen des politischen Engagements vergleichen. Denn die sind es in erster Linie, die sich geändert haben.

Dennoch wird es wohl so bleiben, dass wir uns weiterhin den Vorwurf des Unpolitisch- und Desinteressiertseins von all jenen gefallen lassen müssen, die sich in ihren 20ern von ihrem Einstiegsgehalt ein Haus bauen konnten.

Wer heute Studierende für ihre vermeintliche Apathie kritisiert, tut das zumeist aus einer privilegierten Position heraus: Es gab in Österreich eine Zeit, wo eins ohne viel Druck von außen lange studieren konnte. Studiengebühren gab es nicht, dafür die Öffi-Freifahrt für Studierende. Die Mieten waren leistbar, und sonst gab es Beihilfen, von denen die Betroffenen auch leben konnten. Und selbst, wenn nicht: Da der Abschluss keine Eile hatte, war ein Nebenjob kein Problem. Liebe 68er-Revolutionäre, Nostalgie können wir schon lange.

Heute arbeiten fast zwei Drittel der Studierenden durchschnittlich 20 Stunden in der Woche. Das ist kein Nebenjob mehr, das ist Arbeiten für den Lebensunterhalt. Es bedeutet eine Studienverzögerung und kostet letztendlich 363,63 Euro pro Semester. Eine weitere finanzielle Belastung, die nach den Plänen der neuen Regierung bald alle noch härter treffen soll. Viele wären gerne politisch aktiv, würden sich gerne engagieren – aber wie soll das gehen, ohne sich selbst völlig kaputtzumachen? Ohne sich zwischen Lohnarbeit, Studium und politischer Arbeit aufzureiben? Die Studierendensozialerhebung zeigt: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Spiegel der Gesellschaft

Abgesehen von den realpolitischen Umständen, unter denen wir studieren: Studierende und Hochschulen sind und waren immer ein Spiegel der Gesellschaft. Der Druck in Richtung Verwertbarkeit, wirtschaftlich liberale und gleichzeitig gesellschaftlich antiliberale Tendenzen wirken sich auch auf die Hochschulen aus. Die Generation der 68er hat – zum Glück – gesellschaftlich sehr viel bewirkt, und das konfrontiert mit Universitätsangehörigen, die noch kurz zuvor aktive NSDAP-Mitglieder waren. Unter anderem sind aber auch Konkurrenzkampf und Leistungsdruck ein Produkt ihres Einsatzes, mit dem wir heute zu kämpfen haben.

Mitten in der Gesellschaft

Gerade die Österreichische Hochschüler_innenschaft betont immer wieder, dass Hochschulen nicht im luftleeren Raum, sondern mitten in der Gesellschaft stehen. Damit trägt die Gesellschaft genauso einen Teil der Verantwortung dafür, was mit den Hochschulen passiert: Sind sie ein Ort des Diskurses und der Auseinandersetzung? Ein Ort der Begegnung und auch der Unruhe? Wem stehen sie offen? Geht es dort um Veränderung? Oder sollen sie ein Dasein fristen, in dem es um die Zementierung gesellschaftlicher Verhältnisse geht und Individualität im besten Fall einen Störfaktor, im schlechtesten Gefahr darstellt?

Dass Hochschulen ein Spiegel der Gesellschaft sind, zeigt auch die neu aufgelegte und veröffentlichte Studie der ÖH zu autoritären Tendenzen unter Studierenden. Seit 2011 ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen, was belegt: Gewinnen rechtspopulistische und rechtsextreme Strömungen in unserer Gesellschaft an Boden, tun sie das auch an Hochschulen. Seien es die Identitären in Europa oder Alt-Right-Bewegungen in den USA: Das ist kein plumper Populismus, das ist akademischer Rechtsextremismus – und das macht ihn auch so gefährlich. Hochschulen und Studierende, ihre Ideen und Einstellungen sind also Teil einer hochkomplexen Wechselwirkung mit der Gesellschaft. Beide – Hochschulen und die Gesellschaft – haben unweigerlich Verantwortung füreinander zu übernehmen.

Es ist in Ordnung, die "guten alten Zeiten" zu idealisieren. Es ist auch in Ordnung, den Studierenden von heute immer wieder mal in Erinnerung zu rufen, was sie eigentlich können, was ihre Möglichkeiten des Widerstands sind. Aber es ist nicht in Ordnung, ihnen vorzuwerfen, sie seien unpolitisch und nicht engagiert. Alleine wie viele Studierende in den Gremien der Hochschulen involviert sind, von Studienkommissionen bis hin zu Arbeitsgruppen des Ministeriums: Österreich hat die stärkste Studierendenvertretung ganz Europas – wenn nicht sogar darüber hinaus.

Und selbst abseits davon: Wer forderte während "Unibrennt" eine bessere Finanzierung der Hochschulen? Wer versorgte die Geflüchteten in der Votivkirche mitten im Winter? Wer arbeitete im Sommer 2015 wochenlang auf den Bahnhöfen in ganz Österreich, als die Regierung dabei versagte, Verpflegung, Kleidung und Rechtshilfe zur Verfügung zu stellen? Wer ging auf die Straße, als die schwarz-blaue Regierung angelobt wurde – gemeinsam mit vielen anderen? Und international: Wer kämpft in Irland für die Abschaffung des Abtreibungsverbots? Wer geht in Polen gegen die Abschaffung des Rechtsstaats auf die Straße? Wer kämpft in Italien vor Gericht für offene Universitäten? Und wer demonstriert in den USA für einen strenger kontrollierten Zugang zu Waffen?

Studierende sind nicht unpolitisch. Sie sind anders als die 68er-Generation. Vielleicht werden sie deren Ansprüchen nicht gerecht – auch das muss in Ordnung sein. Wenn wir etwas von den 68er-Revolutionären gelernt haben sollten, dann dass Scheitern erlaubt ist.(Johanna Zechmeister, Marita Gasteiger, Hannah Lutz, 31.5.2018)