Wien – Motiv, Mittel und Möglichkeit sind in der Kriminalistik gemeinhin die drei "M", nach denen Ermittler und Staatsanwälte suchen. Im Fall von Jozip B. (Name geändert) gibt es sogar zwei mögliche Motive, wieso der 48-Jährige das Opfer Agron R. über ein Jahr lang terrorisiert haben soll – verifizieren lässt sich aber keines.

Die von Richterin Andrea Wolfrum verhandelte Geschichte ist daher mehr als undurchsichtig. Im März 2017 soll der unbescholtene Lokalbesitzer B. damit begonnen haben, Herrn R., den er als Gast kannte, zu stalken. Anrufe, SMS, Bilder im Briefkasten, Besuche an R.s Arbeitsstelle und der Schule der Kinder, diffamierende Einträge auf Facebook – im Akt ist das seitenweise dokumentiert.

Erst Popmusiker, dann Wirt

Am ersten Verhandlungstag im vergangenen Dezember versprach der auch als Popmusiker tätig gewesene Angeklagte der Richterin noch hoch und heilig, R. in Ruhe zu lassen. Er ließ nicht. Am 12. April wurde B. daher in Untersuchungshaft genommen. Als Zeuge formuliert R. nun beim zweiten Verhandlungstermin – wohl stellvertretend für viele Stalkingopfer –, wie es ihm geht. "Gott sei Dank bin ich endlich frei. Ich kann wieder normal in die Arbeit gehen und brauche keine Angst mehr zu haben, wenn die Kinder auf dem Schulweg sind."

Erklären kann sich der Bauarbeiter die beharrliche Verfolgung nicht. "Er wollte mich von meiner Frau wegbringen, ich weiß nicht, warum." Der Angeklagte, der seine fassonierten Augenbrauen mit Kajal betont und ein T-Shirt mit glitzernden Applikationen trägt, sieht während R.s Aussage demonstrativ weg.

Die psychiatrische Sachverständige Sigrun Roßmanith, die B. begutachtet hat, hat eine Idee, was hinter der Sache stecken könnte. "Woher kennen Sie den Angeklagten?", fragt sie daher. "Ich war von Anfang an Lokalgast, er war immer so freundlich und süß", antwortet das Opfer.

Weder Geschlechtspartner noch Gläubiger

"Haben Sie eine Beziehung mit ihm gehabt?", will Roßmanith wissen. "Ich habe Frau und Kinder!", ist R. entrüstet. "Das sagt noch nichts", gibt die Expertin zu Bedenken. R. bestreitet jedenfalls kategorisch ein sexuelles Verhältnis, von dem der Angeklagte Roßmanith erzählt hat. Auch dass ihm der Gastwirt bis zu 80.000 Euro geliehen haben soll, stimme nicht. Der Koch und ein weiterer Gast des Lokals behaupten dagegen, der Angeklagte habe das jedem erzählt.

Dieser weitere Gast, Hans H., dessen Haupt- und Gesichtshaar frappant an den Fußballer Ernst Baumeister in den 80er-Jahren erinnert, hat dafür andere seltsame Beobachtungen gemacht. So soll laut Anklage das Stalking bereits Anfang März 2017 begonnen haben. Im Sommer fuhr R. allerdings wochen-, wenn nicht gar monatelang mit dem Auto des Angeklagten herum.

Überhaupt sei die Beziehung der beiden Männer "eigenartig" gewesen, erinnert sich der Zeuge. "Man hat nicht gewusst, wer der Chef ist." Wenn B. nicht da gewesen sei, habe R. sich als Besitzer geriert. "Eine sexuelle Beziehung haben Sie nicht mitbekommen?", interessiert Richterin Wolfrum. "Um Gottes Willen, nein!", ruft der 58-jährige H. schockiert und demonstriert, dass die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Partnerschaften noch nicht in der Vorstellungswelt aller Wiener verankert ist.

Kein "Liebeswahn", sondern "Entäuschungswut"

Sachverständige Roßmanith stellt fest, dass B. "eine nicht ganz durchsichtige Beziehung zu R." habe. "Es klingt insgesamt nach einer fast obsessiven Beziehung, die fast suchtartig ist." Über den Auslöser des Stalkings wagt sie aber kein Urteil abzugeben. "Vielleicht hat Herr B. seine Identität selbst noch nicht ganz geklärt, er hat zumindest erotische Wünsche und Fantasien mit Herrn R. beschrieben." Insgesamt handle es sich aber nicht um "Liebeswahn", sondern "Entäuschungswut".

Verteidiger Elmar Kresbach spricht in seinem Schlussplädoyer von einer "ganz blöden Gemengelage". Es sei um Schulden gegangen; eine Männerfreundschaft, bei der sich eine Seite mehr erhofft hat, auch Kresbach weiß es nicht genau. Sein Mandant habe jedenfalls reumütig gestanden, der Verteidiger ist auch für die Zukunft zuversichtlich. "Er hat jetzt in der Untersuchungshaft doch ein bisschen eine pädagogische Erfahrung gemacht", ist Kresbach von der spezialpräventiven Wirkung eines Gefängnisaufenthalts überzeugt.

Auch B. entschuldigt sich nochmals ausdrücklich und verspricht, wie schon im Dezember, im Zusammenhang mit R. die Finger vom Mobiltelefon zu lassen und den Mann auch sonst nicht mehr zu kontaktieren. Richterin Wolfrum scheint zwar etwas skeptisch, entscheidet sich schließlich aber, nicht rechtskräftig, für vier Monate bedingte Haft. (Michael Möseneder, 2.6.2018)