Es gibt dutzende Bosnien-Experten im deutschen Sprachraum, aber es gab bisher noch kein Standardwerk über diesen widersprüchlichen, komplizierten und faszinierenden Staat in Südosteuropa. Nun ist es da. Das Buch Das politische System Bosnien und Herzegowinas beschreibt das Einzigartige, aber auch das Exemplarische.

"Die Besonderheit von Bosnien und Herzegowina innerhalb Jugoslawiens lag darin, dass dessen Bevölkerung sich am stärksten aus verschiedenen Bevölkerungs- und Religionsgruppen zusammensetzte und es die einzige Republik war, in der nicht eine Volksgruppe zahlenmäßig dominierte", schreibt der Historiker Nicolas Moll, der in Sarajevo lebt und der nicht nur als Herausgeber (gemeinsam mit Tobias Flessenkemper) für die Entstehung dieses Buches maßgeblich war.

Kenntnisreich vermittelt der Historiker Heiner Grunert die Religionsgeschichte: "In kaum einem anderen Land Europas leben Christen, Juden und Muslime – zumal in diversen Glaubensformen und Konfessionen – so lang und so eng zusammen", stellt er fest. Interessant ist, dass heute Katholiken in Bosnien-Herzegowina am häufigsten ihren Glauben praktizieren, die Orthodoxen hingegen am wenigsten, die Muslime liegen im Mittelfeld – ihre Religiosität nahm allerdings zu. Grunert geht auf die Nationenbildung der Serben und Kroaten im 19. Jahrhundert ein und spricht dabei von "vormodernen Ideen von abstammungsmäßigen, religiösen und kulturellen Gemeinschaften". Die Nationenbildung der Bosniaken folgte erst später, aber nach einem ähnlichen Modell.

Der Kollektivismus

Die vorgestellte "ethnische Zugehörigkeit" ist auch die Basis, von der aus der Streit um die staatliche Ordnung in immer neuen Runden ausgetragen wird, wie der Politikwissenschafter Thorsten Gromes erklärt. "Vereinfacht dargestellt hatte eine Seite vor dem Krieg zunächst die Loslösung Bosnien-Herzegowinas von Jugoslawien vorangetrieben und dann für die territoriale Integrität der neu entstandenen unabhängigen Republik Bosnien und Herzegowina gekämpft. Diese Position vertraten vor allem Politiker und Bürger der bosniakischen Volksgruppe, die zahlenmäßig größte innerhalb der Republik. Auf der Gegenseite kämpften vor allem Serben erst gegen die Unabhängigkeit und dann gegen die territoriale Integrität von Bosnien und Herzegowina", schreibt Gromes. Für die Klarheit seiner Ausführungen werden vor allem Leser, die sich nicht so eingehend mit Südosteuropa beschäftigen, dankbar sein. Manche Sätze entlarven die aktuelle Propaganda gut: "Angesichts ihrer jeweiligen Positionen lag es im Interesse aller drei Seiten, das politische System als dysfunktional vorzuführen, und zwar vor den eigenen Anhängern wie auch vor den externen Mächten." Insbesondere bosnisch-serbische Vertreter sprechen immer wieder von einem nicht aufrechtzuerhaltenden Staat "in der Hoffnung, mit der Zeit würde der Widerstand der anderen Konfliktparteien wie auch der externen Mächte gegen eine Loslösung der Republika Srpska bröckeln. Dabei sehen sie sich vor allem durch Russland unterstützt", so Gromes.

Der Wiener Politologe Vedran Dzihic spart nicht an Kritik am Ethnosystem. Die Vertreter der Internationalen Gemeinschaft hätten das herrschende Narrativ zur Friedenslösung übernommen: "Mit Dayton wurde das ethnonationale Prinzip als Staatsprinzip festgeschrieben. Diese Logik fand ihren realpolitischen Niederschlag in der Teilung des Landes in zwei ethnisch definierte Entitäten und in der Festlegung der Subjekte des neuen Staates – des ethnisch definierten Bürgers und der entsprechenden Kollektive", schreibt er. Das Problem ist der Kollektivismus in diesem Konzept. "Man könnte auch vom (vorläufigen) Sieg des ethnonationalen über das zivilgesellschaftliche und bürgerschaftliche Prinzip sprechen", bringt er das Vormoderne dieser Ideologie auf den Punkt.

Bosnologie-Anfänger

In dem Sammelband gibt es ein paar Redundanzen, aber sie dienen dem Verständnis für Bosnologie-Anfänger. Insgesamt ist das Buch aber mehr als eine Einführung, eher schon ein Nachschlagewerk. Verdienstvoll ist, dass sich die Autoren nicht um heikle Schuldfragen herumschummeln. Grunert schreibt etwa: "Der Krieg von 1992 bis 1995 in Bosnien-Herzegowina war weder in seinen Ursachen noch seinen Zielen ein Religionskrieg oder ein clash of civilizations. Vielmehr stellte er einen politisch motivierten und mit massiver Gewalt geführten Konflikt um die administrative und militärische Kontrolle über Territorien dar." Religiöse Zugehörigkeit wurde von den Kriegsakteuren jedoch als eine mobilisierende, erklärende und legitimierende Funktion verwendet.

Interessant wird es auch, wenn Dzihic darauf verweist, dass angesichts des Rechtspopulismus und der Identitätspolitik in anderen europäischen Staaten niemand vor Ethnisierung gefeit ist. "Vergleicht man diese ethnopolitische Praxis der Wählermobilisierung in Bosnien mit aktuellen Trends in Europa, drängt sich eine Ähnlichkeit mit rechtspopulistischen und nationalistischen Bewegungen in Europa auf (etwa in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Belgien und Ungarn), die auf dem Prinzip der Abgrenzung von den (imaginären) Anderen (sei es von Muslimen, von Fremden, von Flüchtlingen) Wählerschaften mobilisieren und die traditionellen europäischen Parteien unter Druck setzen."

Insofern ist das Buch über Bosnien-Herzegowina auch eine Art Warnung davor, was drohen kann, wenn man Kollektivismus zum entscheidenden Systemfaktor macht. (Adelheid Wölfl, 1.6.2018)