Überall, wo die kleine, quirlige Frau mit der braun-weißen Helmfrisur und der Mann mit Hut und Sonnenbrille auftauchen, kommen Menschen zusammen. Die überlebensgroßen Porträtfotos, die sie auf Häuserwänden, Bunkern, Scheunen und Containern affichieren, sind nicht nur Anlass, Geschichten von früher zu teilen, sie liefern auch Anknüpfungspunkte fürs Heute. Für kluge Bemerkungen zum Wesen der Kunst ebenso wie zu Einsichten bezüglich der Frage, was Ziegen ohne Hörner mit der Marktwirtschaft zu tun haben.

Stoßen mit überlebensgroßen Porträtfotos überraschende Diskurse an: Filmemacherin Agnès Varda und Street-Art-Künstler JR in "Augenblicke: Gesichter einer Reise".
Foto: Filmladen Filmverleih

Zu Wort kommen nicht Experten, sondern Menschen, die sonst wenig gehört werden: unter anderem Hafenarbeiter, ein Lebenskünstler ohne geregelte Arbeit, ein Bauer, der im Alleingang 800 Hektar Land bewirtschaftet, die letzte Bewohnerin einer aufgelassenen Bergbausiedlung. Sie alle werden nicht einfach interviewt, sondern es werden Situationen geschaffen, in denen sie als Akteure auftreten.

Großmutter der Nouvelle Vague

Die im Vorjahr für einen Oscar nominierte Dokumentation Augenblicke: Gesichter einer Reise / Visage Villages ist die erste Gemeinschaftsarbeit von Agnès Varda. Die oft als "Großmutter der Nouvelle Vague" bezeichnete Filmemacherin, die am Mittwoch 90 wurde, ist dafür mit dem 35-jährigen, für sein Inside Out-Projekt bekannten Fotografen und Street-Art-Künstler JR quer durch die französische Provinz gefahren. Was eine populistische Angelegenheit hätte werden können, ist frei von Herablassung, dafür voll überraschender, im Vorbeigehen servierter Einsichten. Unsere Vorurteile sind ständig auf dem Prüfstand.

Als Varda und JR die streikenden Dockarbeiter von Le Havre besuchen, würdigen sie jene, die in deren Männerwelt sonst keinen Platz haben: Sie inszenieren die Frauen der Arbeiter als überlebensgroße Totemfiguren, geben ihnen Gelegenheit, ihre Gedanken auf den Punkt zu bringen.

Filmladen Filmverleih

Tiefgehende Empathie grundiert nicht nur Augenblicke, sie zeichnet so gut wie alle Filme Vardas aus. Oft waren es Frauen, die von der Feministin ins Zentrum gerückt wurden. In ihrem Spielfilmdebüt von 1961, Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7, warten wir mit einer jungen Sängerin, die glaubt, an Krebs erkrankt zu sein, auf die Diagnose. Die sich trennenden und überkreuzenden Wege zweier unterschiedlicher Frauen bringt uns Varda in Die eine singt, die andere nicht (1977) näher. Nüchtern und berührend der Blick, den sie 1985 in Vogelfrei auf eine von Sandrine Bonnaire verkörperte Vagabundin wirft.

Karrierebeginn als Fotografin

Varda begann ihre Karriere als Fotografin. Einem Foto, das sie in den 50er-Jahren von einem ihrer Künstlergefährten gemacht hat, begegnen wir in Augenblicke riesenhaft vergrößert. Affichiert auf einen heruntergestürzten Bunker am Strand wirkt Guy Bourdin, der 1991 verstorbene Revolutionär der Modefotografie, als ruhe er in einer Wiege – bis die Flut das Bild hinwegwäscht.

Wie schon die autobiografische Doku Die Strände von Agnès (2008) ist auch Augenblicke eine komplexe Collage, die en passant das Flüchtige der Kunst ebenso reflektiert wie die eigene Sterblichkeit. Was den Film so vergnüglich macht, ist, dass Varda an keiner Stelle ihre Leichtfüßigkeit, ihren entwaffnenden Humor einbüßt.

Kurz aus der Fassung scheint sie nur zum Ende des Films eine Finte des alten Nouvelle-Vague-Gefährten Jean-Luc Godard zu bringen. Plötzlich steht die Erinnerung an Vardas 1990 verstorbenen Ehemann, den Regisseur Jacques Demy (Die Regenschirme von Cherbourg), im Raum. Es wäre nicht Varda, deren Filme immer auch eine Reflexion auf das Kino sind, wenn sie nicht auch darauf eine passende filmische Antwort finden würde. Das Lächeln, das einem Augenblicke ins Gesicht zaubert, hält jedenfalls noch lange nach Verlassen des Kinos an. (Karl Gedlicka, 2.6.2018)