Didier Eribon (64) ist Soziologe und Philosoph. Er forscht und lehrt als Professor an der Université de Picardie Jules Verne in Amiens.

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In Rückkehr nach Reims (Suhrkamp) beschreibt der französische Soziologe Didier Eribon die mühevolle Wiederannäherung an seine proletarische Herkunft. Das Buch wurde im deutschsprachigen Raum zu einem großen Erfolg. Auch deshalb, weil es eine kluge Analyse dessen liefert, war um die Arbeiterschicht heute mehrheitlich rechts wählt.

Auf Einladung der Akademie der bildenden Künste und der Universität Wien besuchte Eribon diese Woche Wien und präsentierte sein Nachfolgebuch Gesellschaft als Urteil. 400 Leute seien ge kommen, erzählt er bei unserem Zusammentreffen strahlend. Und dass er sich durch die Stadthitze zur Keith-Haring-Ausstellung in der Albertina gekämpft habe – einer "bewegenden" Schau.

STANDARD: Beginnen wir mit einem aktuellen Bild aus der Politik: Italien steht vor einer populistischen Regierung. Präsident Mattarella versuchte offenbar umsonst, diese abzuwenden. Welche Assoziationen weckt das bei Ihnen?

Eribon: Die Situation in Italien ist vielschichtig. In Städten wie Genua oder Turin, die in den 1970er-Jahren Hochburgen der Kommunistischen Partei waren, wird heute die Fünf-Sterne-Bewegung oder Lega Nord gewählt. Es ist genau das passiert, was ich in Rückkehr nach Reims beschrieben habe. Die Linke hat aufgrund eigener Fehler verloren. Mattarella wollte die EU vor der Bedrohung der beiden Bewegungen schützen – man kann das durchaus verstehen. Doch er hätte damit auch jene EU-Politik gestärkt, die primär neoliberal ausgerichtet ist. Die Prekarisierung hat die Menschen erst dazu gebracht, für die Populisten zu stimmen. Was dieses Bild also nahelegt, ist, dass wir ein anderes Europa brauchen: eines, das auf Arbeiterrechten aufbaut; ein soziales, kulturelles Europa, nicht dieses neoliberale, das Menschen Lebensgrundlagen nimmt.

STANDARD: Welche Maßnahmen sind die dringlichsten?

Eribon: Sehen Sie sich an, was gerade in Frankreich passiert. Die Macron-Regierung zerlegt den öffentlichen Sektor – das ist die Abschaffung des Wohlfahrtsstaats. Die Trickle-down-Theorie, auf der dieser Plan basiert, ist eine schreckliche Lüge.

STANDARD: All das hat Thatcher auch schon getan.

Eribon: Und Sozialdemokraten wie Tony Blair, Gerhard Schröder, François Hollande ... Das Allerwichtigste ist, den Wohlfahrtsstaat wiederherzustellen. Wiederaufbauen, was zerschlagen wurde, und dabei dem Nationalismus widerstehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es dieses Problem auch bei der Linken gibt. Das ist ein Riesenfehler. Wenn man das Vokabular des Feindes teilt, dann bekämpft man ihn nicht länger, sondern stärkt ihn sogar noch. Ich unterstütze Jean-Luc Mélenchon (Linkspartei, Anm.), habe ihn aber auch für seine nationale Symbolik kritisiert. Das ist auch bei Podemos in Spanien so: "La patria contra la casta", "Die Nation gegen das Establishment" – solche Slogans kennt man auch von Le Pen.

STANDARD: Was Nationalismus anbelangt, gibt es verblüffende Parallelen zwischen den Ländern. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Eribon: Das ist tatsächlich bemerkenswert. Es kann nur bedeuten, dass auch die Ursachen die gleichen sind. Man darf sich also bei der Analyse nicht auf das eigene Land beschränken, sondern muss die internationale Entwicklung in die Analyse miteinbeziehen. Sogar die USA: Trump hat seine Wahl vier Staaten zu verdanken, die industriell geprägt wurden, mittlerweile jedoch völlig deindustrialisiert sind. Die Frage der Klasse ist dabei die fundamentale: Wenn wir nicht über die Klasse reden – nicht unbedingt im marxistischen Verständnis –, werden wir nicht verstehen, was hier passiert.

STANDARD: Der aus der Mode gekommene Begriff der Klasse spielt auch in Ihren Büchern eine wichtige Rolle: Ist es nicht viel schwieriger, diese Klasse zu fassen, wo sie doch nur noch fragmentiert in Erscheinung tritt?

Eribon: Sie ist in der Tat schwieriger zu erreichen. Die meisten Massenmedien sind in der Hand großer Unternehmen, in England können sie gesammelt gegen Jeremy Corbyn (Labour Party, Anm.) intrigieren. Die Frage lautet also, wie man Arbeitslose organisiert. Wie lässt sich jenes Heer aus Teilzeitarbeitern und neueren Angestellten repräsentieren? Sie können sich nicht selbst organisieren, weil sie isoliert sind und Angst haben, ihre Jobs zu verlieren. Währenddessen spricht Amazon-Chef Jeff Bezos in Interviews davon, dass er nun plane, in Raumfahrt zu investieren. Zugleich gibt es Berichte von Arbeitern in Amazon-Lagerhäusern, die sich ihren Fahrschein zum Arbeitsplatz nicht leisten können. Sie wohnen in Zelten nahe diesen Orten. Das ist einfach unerträglich.

STANDARD: Es brauchte neue Repräsentationsformen, um gemeinsame Anliegen zu artikulieren?

Eribon: Ja, und deshalb muss man Klasse neu überdenken und rahmen, sodass Gewerkschaften, Parteien und Organisationen entsprechend mobilisieren können. In Frankreich hat die Sozialistische Partei aufgehört, in diesen Kategorien zu denken – es gab nur noch die Idee des Individuums, dem man Verantwortung aufbürdet.

STANDARD: In "Rückkehr nach Reims" haben Sie anhand Ihrer eigenen Eltern beschrieben, wie man damit der Rechten zuspielte.

Eribon: Die Idee der Klasse wurde abgeschafft, doch diese Menschen haben sich als Gruppe neu konstituiert – das ist das Reservoir der Ultrarechten. Eine Stimme für die Nationalisten ist immer die Stimme einer Klasse. In den ärmsten Gegenden Nordfrankreichs hat der Front National 50 bis 60 Prozent. Rassisten waren die Menschen dort schon, als sie für die Kommunisten stimmten. Damals war das aber nicht zentral, es gab den Klassenfeind, und man konnte auch gegen eigene Gefühle für eine Partei stimmen. Sie wähnten sich repräsentiert. Es ist eine intellektuelle Mythologie zu glauben, dass es so etwas wie die aktive Rolle der Arbeiterklasse gibt.

STANDARD: Nach den Erfolgen der Populisten haben Intellektuelle wie Mark Lilla oder Slavoj Žižek geschrieben, die Linke habe die Arbeiterklasse zugunsten von Identitätspolitik vernachlässigt. Sie gehörten nicht dazu – warum?

Eribon: Viele dieser Denker haben sich davor nie für die Arbeiterklasse interessiert. Und nun denunzieren sie jene Bewegungen, die sie auch noch nie mochten, den Feminismus, die LGBT-Bewegung etc. Vor allem im deutschen Raum wurde mein Buch als eine Kritik an sozialen Bewegungen gelesen, als Aufforderung, den Fokus zurück auf ökonomische Themen zu richten. Das war überhaupt nicht meine Intention. Dass die Linke die Arbeiterklasse sich selbst überlassen hat, bedeutet nicht, dass sie nun den Feminismus ignorieren sollte, ganz im Gegenteil. Für mich als homosexuellen Mann ist die Schwulenbewegung genauso wichtig wie die Bewegung der Arbeiterklasse.

STANDARD: In Berlin haben Sie gerade an einer Tagung zum Thema Emanzipation teilgenommen – würden Sie 50 Jahre nach ’68 diesen Begriff anders bestimmen?

Eribon: Die Idee des Mai ’68 und der Folgejahre war eine generalisierte Kritik an jeder Art der Herrschaft. Wenn Menschen sich gegen eine Form der Unterdrückung wenden, damals wie heute, kann man ihnen nicht entgegnen, das sei nur Identitätspolitik – ein Begriff, den ich übrigens ablehne. Es ist auch falsch zu behaupten, eine soziale Bewegung sei nicht wichtig, wenn sie nicht das ganze System infrage stellt. Alain Badiou sagt, politisch sei nur, was man unter das Konzept einer kommunistischen Hypothese subsumieren könne. Diese Idee halte ich für Nonsens. Bewegungen, die für Rechte von Migranten eintreten, die LGBT-Bewegung, die Ökologiebewegung – sie alle wären dann ausgeschlossen. Man kann die Liste nicht schließen. Selbst innerhalb einer Bewegung muss man sich immer die Frage stellen, wer nicht da ist.

STANDARD: Das droht sie nicht zu gefährden?

Eribon: Das sind die unüberwindbaren Paradoxien der Politik – sie muss ein Ort der Konfrontation bleiben. Wenn es darum geht, den Begriff der radikalen Demokratie zu erweitern, dann gilt es Menschen zu erlauben, ihr Leben zu leben. Wie es meine Freundin Judith Butler formuliert hat: Es geht um ein Leben, das einen besser atmen lässt. (Dominik Kamalzadeh, 3.6.2018)