Kinder lernen über Märchen menschliche Eigenschaften kennen. Im Märchen sind Gut und Böse immer getrennt dargestellt, in Wirklichkeit sind sie in jedem vereint.

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Psychiater Fritz Riffer ist Ärztlicher Leiter am Psychosomatischen Zentrum Eggenburg-Gars. Dort findet am 8. Juni der Jahreskongress zum Thema "Mensch Beziehung Störung" statt. Schriftsteller Michael Köhlmeier wird über Märchen sprechen.

STANDARD: Gibt es gute und böse Menschen?

Riffer: Jeder Mensch hat beide Teile in sich. Niemand ist nur gut oder nur böse.

STANDARD: Wie zeigt sich das in der Persönlichkeit?

Riffer: Es zeigt sich in erster Linie im Alltag. Das Gute beispielsweise wenn wir uns um andere kümmern, also in altruistischen Verhaltensweisen. Das Böse – was Gut und was Böse ist, wird gesellschaftlich vereinbart – zeigt sich bisweilen schon in alltäglichen Konflikten, eindeutiger bei Mobbing und Stalking bis hin zur körperlichen Gewalt.

STANDARD: Wie ist das bei kranken Menschen?

Riffer: Wir wissen: Das ist ein und dieselbe Person, die manchmal gut und manchmal böse ist. Menschen mit einer Borderlinestörung schaffen das nicht, die sind vom Entweder-oder beherrscht. Es gelingt den Betroffenen nicht, die beiden Anteile zu einer Person gehörig zu erleben. Diese zentralen und bis heute gültigen Forschungsergebnisse zur Borderlinestörung hat der Psychiater Otto Kernberg bereits vor 50 Jahren veröffentlicht.

STANDARD: Wie entsteht sie?

Riffer: Die entscheidende Lebensphase ist das zweite Lebensjahr, sagt die Psychoanalyse. In der Zeit löst das Kind sich von der Mutter, weil es laufen lernt. Das ist immer auch ambivalent, mit Angst vor dem Verlassenwerden verbunden. Und das Kind lernt, dass das Gute und das Böse in einer Person vorhanden ist, vorher werden diese beiden Anteile getrennt gehalten – gespalten. Wenn in dieser Phase traumatisierende Lebensbedingungen vorliegen oder die Begleitung des "Sich von der Mutter Lösens" wegen übermäßiger Verlassensangst nicht gelingt, bleibt oft nur das Entweder-oder, die gute, nährende oder böse, versagende Mutter. Das gibt dem Kleinkind zunächst Orientierung und macht seine Ängste aushaltbar. Im späteren Leben fehlt diese Eigenschaft, beide Anteile "gleichzeitig" in einer Person sehen zu können. Der soeben noch gute Andere, der Partner beispielsweise, wird im nächsten Moment als böse erlebt, und wird aggressiv "bekämpft". Dahinter steht meist diese frühkindliche Angst, verlassen zu werden.

STANDARD: Märchen sind Thema beim Jahreskongress des Psychosomatischen Zentrums Waldviertel (PSZW). Warum?

Riffer: Die Gegenüberstellung von Liebe und Aggression lässt sich anhand von Märchen gut erläutern, davon wird der Schriftsteller Michael Köhlmeier beim Kongress berichten. Im Märchen ist die Spaltung besonders gut dargestellt, weil die guten und die bösen Eigenschaften meist auf zwei Personen verteilt sind. Es gibt eine böse Hexe und eine gute Fee. Deshalb lieben Kinder Märchen auch so. Obwohl sie wissen, dass ihre Mutter beide Eigenschaften in einer Person vereint, ist es einfacher, diese getrennt zu denken.

STANDARD: Und die Erwachsenen?

Riffer: Auch wir haben den Wunsch in uns, eine Einteilung in Gut und Böse zu finden, das beruhigt. Man denke nur an die Politik. Die meisten von uns haben eine für sich gute und eine böse Partei. Was als gut oder böse bewertet wird, hängt vom persönlichen Standpunkt ab. Diese Aufteilung machen wir alle täglich, sie gibt uns Orientierung. Die Kunst ist, nach dem Auseinanderhalten auch wieder zusammenführen zu können. Bei Diskussionen heißt das: Ich habe diesen Standpunkt, aber kann die Argumente der Gegenseite wahrnehmen und zulassen. Es geht um das Ausmaß der Spaltung und die Fähigkeit, sie zu überwinden. Menschen mit Borderlinestörung tun sich damit schwer.

STANDARD: Wie zeigt sich das?

Riffer: Klinisch zeigt sich, dass die Betroffenen in Beziehungen häufig klammern, weil sie mit der starken Verlustangst nicht umgehen können. Und die Spaltung in Gut und Böse gestaltet ebenfalls maßgeblich die Beziehungen. Ohne für das Gegenüber nachvollziehbar zu sein, schwanken die Betroffenen zwischen Idealisierungen und Entwertungen, loben in den Himmel, oder werden – scheinbar ohne Anlass – aggressiv. Der amerikanische Präsident ist ein gutes Beispiel dafür.

STANDARD: Leidet er an einer Borderlinestörung?

Riffer: Er hat aus meiner Sicht eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, die mit der Borderlinestörung ganz eng verwandt ist. Bei kleinen Anlässen gibt es ein großes Gewitter, er idealisiert und entwertet, sodass die Öffentlichkeit aus dem Staunen gar nicht herauskommt. Auf der anderen Seite hat er Angst, die sich in einer enormen Kränkbarkeit zeigt. Trump sagt über sich, er sei ein stabiles Genie. Das ist der Narzisst. Er entschuldigt sich nicht, leidet auch nicht an seinem Verhalten. Das ist der Unterschied zur Borderlinestörung.

STANDARD: Inwiefern?

Riffer: Borderlinepatienten sind reflektierter, was ihr Ego betrifft. Sie entschuldigen sich, leiden. Dennoch können sie ihr Verhalten nicht steuern.

STANDARD: Welche Anzeichen für Borderline gibt es noch?

Riffer: Wir beobachten eine Identitätsdiffusion. Fragt man einen gesunden Menschen: "Wer sind Sie?", kann er eine Antwort geben. Er wird erzählen, welchen Beruf er hat, was er in der Freizeit gern macht, was seine Vorlieben sind. Das können die Betroffenen nicht. Sie wissen oft nicht, wer sie sind, oder erzählen ganz viele unterschiedliche Anteile von sich, und diese erscheinen eigenartig unverbunden. Auch Selbstverletzungen, das bekannte "Schneiden" zum Spannungsabbau, oder das gefürchtete Gefühl der "inneren Leere" können Anzeichen sein.

STANDARD: Kann die Störung erst im Laufe des Lebens entstehen?

Riffer: Auch wenn ursächliche Faktoren sehr früh angesetzt werden, entwickelt sich das klinische Bild meist ab der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahrzehnts. Die Diagnose wird dadurch erschwert, dass die Erkrankung dann nur schwer von anderen Störungen des Jugendalters abgegrenzt werden kann.

STANDARD: Welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es?

Riffer: Psychotherapie ist die Behandlung der Wahl. Es gibt stationäre Möglichkeiten für Patienten mit schweren Formen, also etwa mit wiederholten Suizidversuchen. Das bieten wir hier in Eggenburg an. Wenn möglich, sollte die Therapie aber ambulant erfolgen. Sie besteht idealerweise aus einer Kombination aus Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Erstere konzentriert sich auf die eigenen Verhaltensweisen, in der Gruppe kann die Störung in der Interaktion mit anderen erfasst werden, und Veränderungen können erzielt werden. Ein für die Borderlinestörung zugelassenes Medikament gibt es nicht. Angst, Aggression oder suizidales Verhalten können wir medikamentös bessern.

STANDARD: Wie gut ist die Prognose bei Borderlinestörung?

Riffer: Zehn Jahre nach Prognosestellung erfüllen zwei Drittel der Patienten die Diagnosekriterien nicht mehr, vereinfacht könnte man sagen: Sie sind gesund. Schlecht ist allerdings häufig die soziale Teilhabe. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, gut in Beziehungen zu leben, sie finden daher oft keine dauerhaften Partnerschaften und tun sich am Arbeitsplatz schwer. Wir versuchen daher, in der Therapie auch die psychosoziale Situation mitzudenken. Wenn das gelingt, leiden die Mitmenschen weniger am Patienten, aber auch die Patienten weniger an sich selbst. (Bernadette Redl, 5.6.2018)