Die Mathezentralmatura stellt schwächere Schülerinnen und Schüler vor nahezu unschaffbare Probleme, gute hingegen werden im Unterricht nicht gefördert.

Foto: https://www.istockphoto.com/at/portfolio/nicolas_

Die Fächer Deutsch und Englisch sind für die Schülerinnen und Schüler durch die Zentralmatura schaffbarer geworden: Man liest im Deutschunterricht vielfach weit weniger literarische Texte als früher. An die Stelle von Literaturgeschichte ist das Trainieren von Textsorten getreten (Erörterung, Bericht, Leserbrief), um eine möglichst gute Vorbereitung für die Matura zu gewährleisten. Im Englischunterricht hilft die "Amerikanisierung" – Jugendliche sehen sich auch privat englischsprachige Serien und Filme an –, die "Listenings" zu bewältigen und ein Grundverständnis für die Sprache zu bekommen. Das Schreiben von Blogbeiträgen – wie heuer bei der Englischmatura – ist für viele computeraffine Schülerinnen und Schüler Teil ihrer Freizeit und wird täglich trainiert. Fehler spielen keine so zentrale Rolle mehr wie formale Gesichtspunkte. Deshalb werden auch Texte, die viele Fehler beinhalten, mit Genügend oder sogar Befriedigend beurteilt.

Im Fach Mathematik hingegen wird mehr als früher Grundverständnis abgefragt. Wie ändert sich das Volumen eines Zylinders, wenn der Radius verdoppelt, die Höhe halbiert wird? Was bedeutet eine Formel im Kontext eines gegebenen Sachverhalts? Man muss aus gegebenen Diagrammen statistische Sachverhalte ablesen können, Wahrscheinlichkeiten berechnen sowie Konfidenzintervalle – bei Exit-Polls nach einer Wahl – angeben oder deuten können und dergleichen mehr.

Mathematische Problemstellungen finden – und lösen

Diese Aufgabenstellungen erfordern bei vielen Schülerinnen und Schülern eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Materie an sich. Man benötigt mehr Abstraktionsvermögen und weniger technische (rechnerische) Fertigkeiten als früher. Für 24 Aufgaben (Typ 1 – das ist der erste und für eine positive Bewertung relevante Teil) hat man 120 Minuten Arbeitszeit, das heißt fünf Minuten pro Beispiel. Oft sind bei einem Beispiel nur ein bis zwei Dinge anzukreuzen. Manchmal zeichnet man eine Strecke in eine Funktion oder in einen Einheitskreis ein, ermittelt Parameter, ordnet sie.

Von den 24 Aufgaben muss man 16 richtig gelöst haben, es gibt in Teil 2 (150 Minuten Arbeitszeit) aber noch vier markierte Grundkompetenzpunkte, die nachträglich helfen, die 16 Punkte von Teil 1 zu erreichen und damit positiv zu sein. Die Aufgabenstellungen in Teil 2 sind sehr textlastig und zielen darauf ab, aus Texten mathematische Problemstellungen herauszulesen und zu lösen. Dabei zu erkennen, welche Sätze aus dem Konvolut der Angabe relevant für die weitere Lösung sind und welche nicht, stellt indes für viele Maturanten bereits ein unüberwindliches Hindernis dar. Das Begründen und Interpretieren eines Sachverhalts ist wichtig geworden, das Rechnen selbst ist in den Hintergrund getreten. Das hat sich heuer noch einmal zugespitzt, da erstmals der Einsatz eines Computer-Algebra-Systems, mit dem jede Gleichung auf Knopfdruck lösbar ist und jede Funktion gezeichnet werden kann, verpflichtend vorgeschrieben war.

Differenzierung nach Schultypen nötig

Wirklich gute Schülerinnen und Schüler finden die Zentralmatura ziemlich langweilig und können meist schon nach der sechsten Klasse eine positive Matura schreiben – heuer waren 17 Grundkompetenzpunkte Lernstoff der fünften und sechsten Klasse. Ein Schüler der sechsten Klasse hätte in diesem Jahr also bereits eine positive Matura absolviert. Die fünfte Klasse ist somit wichtiger als die achte Klasse. Das komplexe Rechnen fällt völlig weg, auch in Teil 2 ist jeder Unterpunkt unabhängig vom vorhergehenden und mit Hilfe kleiner Rechnungen zu lösen.

Ob man mit diesem System Begabte fördert, ist mehr als fraglich. Jedenfalls wäre eine Differenzierung nach Schultypen wichtig. Ein Absolvent des Realgymnasiums hat dieselbe Matura wie jemand, der ein musisches ORG besucht hat. Das ist nicht fair und nicht richtig. Viele Lehrerinnen und Lehrer trainieren vorwiegend Typ-1-Beispiele, um alle "durchzubringen". Das ist für die guten Schülerinnen und Schüler sehr langweilig und demotivierend. Vorbei sind die Zeiten, in denen man mit der Kepler‘schen Fassregel numerische Integration betrieb oder Differentialgleichungen löste. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen man nach einer seitenlangen Rechnung plötzlich – wie am Ende des Tunnels – ein "schönes" Ergebnis vor sich hatte.

Die Folgen des messbaren Erfolgs

Für lernschwache Schülerinnen und Schüler ist vieles schwieriger geworden. Sie können sich nicht mehr wie früher mit schematisierten Aufgaben wie der Kurvendiskussion einer Funktion wichtige Punkte holen. Sie müssen vor allem von Beginn der Oberstufe an mitlernen oder viel Geld in Nachhilfestunden investieren. Die Tatsache, dass das Ergebnis einer Schule zwangsläufig nach außen geht und der Erfolg einer Schule damit messbar wird, führt dazu, dass einige Schulen versuchen, lernschwache Schüler spätestens in der siebenten Klasse "loszuwerden", um ihr Image zu verbessern.

Ein zusätzliches Problem ist das Faktum, dass viele vor allem ältere Lehrerinnen und Lehrer den Schritt zur Zentralmatura nicht wirklich mitgemacht haben, sondern nach dem alten Schema unterrichten, was ebenfalls zu hohen Durchfallsraten führt. Das hat mittlerweile dazu geführt, dass es in vielen Schulen einige wenige Mathematiklehrerinnen und -lehrer gibt, die Maturaklassen unterrichten.

Und wer fördert nun die Begabten?

Die digitale Beschäftigung der Jugendlichen – Stichwort Smartphone – hat jedenfalls dazu geführt, dass schnelles und spontanes Reagieren gefördert wird, im Gegenzug aber Genauigkeit und die Fähigkeit zu konzentriertem Arbeiten abnehmen – genau darum freilich geht es bei der Mathematikmatura. Die letzte Zeit vor der Matura dann zu nützen, um die Teil-1-Beispiele vorzubereiten, wie dies viele Maturantinnen und Maturanten Jahr für Jahr praktizieren, reicht – wie man am Ergebnis dieses Jahres wieder sieht – nicht aus.

Resümee: Das an sich positive Vorhaben der Zentralmatura, vergleichbare Abschlüsse herzustellen, hat schwächere Schülerinnen und Schüler vor nahezu unschaffbare Probleme gestellt, wenn sie nicht zielgerichtet unterrichtet werden und von Beginn der Oberstufe an mitlernen. Die Elite unseres Landes bleibt jedenfalls auf der Strecke. Vereinheitlichung bedeutet Nivellierung. Es bleibt zu wünschen, dass es genug engagierte Lehrkräfte gibt, die ein Wahlpflichtfach Mathematik anbieten oder zusätzlich vertieft unterrichten und damit jene Begabungen heranziehen, die Österreich technologisch in die Zukunft führen können. (Petra Mitlöhner, 6.6.2018)