Der angelsächsische Weise unter Europas linken Denkern: Terry Eagleton.

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Während vieler Jahrzehnte galten Materialisten als rückständige Traditionswahrer. Der Poststrukturalismus und seine Ableger dominierten das Feld. Noch heute, schreibt Terry Eagleton, müsse Materie vielfach "vor ihrer Schmach bewahrt werden, Materie zu sein". Materie ist das Opake, das Untätige und Widerständige.

Zaghafte Versuche, die Ehre der Materie als Gegenstand der Philosophie zu retten, hüllen die Widerspenstigen der Einfachheit halber in luftige, in poststrukturalistische Gewänder. Materialität muss dann mehr sein als sie selbst, ein "Übermaß".

Gefordert wird daher von manchen Kulturalisten ein "erneuerter Materialismus, der vor allem als Signifikation und Subjekt-im-Werden definiert wird". Eagleton, der angelsächsische Weise unter Europas linken Denkern, hat für solche Überspanntheiten einen knappen Kommentar übrig: Ebenso könnte man "die erneuerte Idee eines Nashorns fordern, das vorrangig als Hase definiert wird".

Im laufenden Karl-Marx-Jahr (200. Geburtstag) tut es Not, auf die materiellen Grundlagen unserer soziokulturellen Angelegenheiten hingewiesen zu werden. Eagleton, der 75-jährige Lehrer an der Uni Lancaster, bringt in seiner famosen Schrift Materialismus – Die Welt erfassen und verändern drei höchst unterschiedliche Denker unter ein- und dieselbe Schirmkappe.

Er vergisst nicht, auch die zweifelhafteren Quellen des "dialektischen Materialismus" namhaft zu machen, z. B. den Marx-Freund Friedrich Engels. Denn wenig bis gar nichts scheint mit dem Aufweis gelungen, dass die Welt "ein dynamischer Komplex ineinandergreifender Kräfte" sei, "in dem alle Phänomene", wie vermittelt auch immer, "zusammenhängen".

Alles ist ständig dabei, sich in sein Gegenteil zu verkehren. Wirklichkeit entwickelt sich durch die Einheit widerstreitender Gewalten. Eagletons Skepsis warnt vor allzu schematischen Annahmen. Sie äußert sich in Sätzen wie: "Es gibt wenig Gemeinsamkeiten zwischen dem Pentagon und einem plötzlichen Anstieg sexueller Eifersucht, außer, dass beide nicht Fahrrad fahren können."

Marx als Verbündeter

Eagleton sucht andere, durchaus überraschende Verbündete für seine These, es sei die Antiphilosophie, die unser Gerede von der Geist-Leib-Problematik zum Verschwinden bringt. Er landet bei Marx, um die welterschaffende Tätigkeit des Menschen – die Arbeit – als das zu klassifizieren, was sie ist: materielles Handeln. Zu ihm ist der Mensch verdammt. Es liegt allen anderen, eher kulturellen Vorstellungen zugrunde, denn selbst die Gegenstände der einfachsten (sinnlichen) Gewissheit "sind nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben" (Marx).

Verblüffender sind die beiden anderen Kronzeugen, die Eagleton gegen die Übermacht heutiger Kulturalisten und Zeichenfetischisten aufbietet. Der Theoretiker sucht Zuflucht bei Ludwig Wittgenstein und Friedrich Nietzsche. Das ist etwa so kurios, als wollte man Veganer augenzwinkernd zum Verzehr blutiger Koteletts überreden.

Glänzende Beweisführung

Eagleton gelingt die Beweisführung glänzend. Das Lebendige, Kreatürliche bildet ein Substrat dessen, was uns zur Auffassung und Veränderung der uns umgebenden Welt in besonderer Weise befähigt – und nicht etwa behindert. Nietzsches Rehabilitierung der uns angeborenen Instinkte ist (abseits seiner Faszination durch die bloße "Macht") ein eindrucksvoller Beleg für die materielle Grundlegung jeder Kultur.

Wittgenstein hingegen besaß ein lebhaftes Bewusstsein für den Marx-Ausspruch, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Seine späte Sprachphilosophie zollt dieser Einsicht bereitwillig Tribut. Unsere mannigfaltigen Arten zu sprechen sind mit unseren Lebensformen verbunden. Diese bilden das Substrat unserer Annahmen, Praktiken, Traditionen und natürlichen Neigungen, die Menschen als soziale Wesen miteinander teilen. Dieser Konsens ist der von ihnen gesprochenen Sprache notwendig vorausgesetzt, und er macht, dass wir einander verstehen.

Über viele Widersprüche hat sich Wittgenstein mokiert, indem er sie als Schein-Widersprüche klassifizierte, gewachsen auf dem Mist der Sprache und deren notorischer metaphysischer Heimtücke. Interessanter noch scheint das Projekt eines Linken wie Eagleton, sich im Kampf mit Kulturalisten und anderen Relativierern der Zeugenschaft von Aristokraten (Wittgenstein) und Bilderstürmern (Nietzsche) umso nachdrücklicher zu versichern.

Mag Nietzsche auch mit dem Hammer philosophiert haben, Eagleton gebraucht deshalb nicht Hammer und Sichel. Eher schon legt er dem Leser ein Angebot. Er erinnert daran, dass die (verpönte) Philosophie nicht "außer der Welt" steht (Marx), sondern bis in die Tiefen menschlicher Somatik hinabreicht: "so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt."

Aber im Neoliberalismus, der so tut, als ob alle Probleme vom Markt gelöst würden, drückt ohnehin schon genug auf den Magen. Eagletons Essay, im englischen Original bereits 2016 erschienen, bildet gedankenreiches Labsal und feit vor Illusionen. (Ronald Pohl, 5.6.2018)