Natürlich kann das jeder. Und natürlich jede. Weil hinter einem Marathon- oder Triathlon-Finish nicht Hexerei oder schwarze Magie stecken, sondern vor allem Wollen, System und Disziplin. Plus hoffentlich ein bisserl Glück. Dann kann das wirklich jede und jeder. Vorausgesetzt, und das ist der wichtigste Punkt, den ich hier aber als gegeben voraussetze, man ist gesund.

"Wer vier Stunden spazieren gehen kann, schafft auch einen Marathon", war der erste Satz, den mir mein allererster Trainer sagte. Das war Michael Buchleitner. 2012. Buchleitner sollte im Auftrag eines Reiseveranstalters eine Journalistengruppe "marathonfit" machen. Damit sie (wir) in Palma antreten könnten.

Ich hatte vom Laufen damals genau null Ahnung. War ein Hin-und-wieder-Jogger. Ich machte mit – und lernte zuerst staunen. Und dann laufen.

Foto: thomas rottenberg

Buchleitner, dreifach-Olympionike, 27-fach-Staatsmeister, Wachau-Marathon-Organisator, "Wings-for-Life"-Worldrun-Mastermind und TV-Kommentator, fügte der "das kann jeder"-Ansage einen Nachsatz hinzu. Eine Kleinigkeit: "Man darf nur nicht versuchen, schnell zu sein." Dieser Zusatz machte aus der großspurigen Ansage einen zentralen, wahren Satz: "Wer vier Stunden spazieren gehen kann, schafft auch einen Marathon – man darf nur nicht versuchen, schnell zu sein."

Der Haken: Die meisten Menschen, die einen Marathon laufen wollen (und das M-Wort steht hier auch für jeden anderen Wettkampf) wollen "schnell" sein. Meist wollen sie nicht schnell schnell werden, sondern zu schnell zu schnell.

Foto: thomas rottenberg

Schließlich geht das ja auch "kalt": Jeder kennt wen, der wen kennt, der dabei war, wie irgendwer eine besoffene Wette abschloss: Er (es sind fast immer Männer) werde gleich am nächsten Tag einen Marathon laufen.

Die Geschichte endet immer damit, dass er es schaffte. Und zwar "schnell".

In jeder M-Debatte steht dann irgendwann einer auf, verweist auf so eine Wette – und sagt, dass alles Gerede über Training und Struktur doch Pipifax sei: Weil das aus dem Stand … und so weiter. Im nächsten Satz kommt dann irgendeine Fabel-Zeit.

Auch unter dieser Kolumne taucht derlei öfters auf. Manchmal von Trollen, oft aber ohne Neid-Beiß-Niedermach-Background – im Zuge einer Diskussion. Zuletzt vergangene Woche: "Aus dem Stand weg könnte ich so einen Halbtriathlon in vielleicht 8-9h schaffen. Ohne speziell angepasstes Training, nur mit dem Fitnessniveau, das ich sowieso immer halte."

Das war nicht überheblich gemeint, sondern einfach eine Feststellung – und die ging mir während der "Andere gehen jetzt baden""-Momente meiner High-Noon-Hitze-Longjogs wie ein Mantra durch den Kopf.

Foto: thomas rottenberg

Ja, es gibt Leute, die das können. Nur: Ich bin sicher keiner davon. Und ich behaupte, dass das für rund 90 Prozent der Menschen, die ich kenne, gilt. Nicht, weil wir so unsportlich wären, sondern aus ein paar anderen Gründen. Der erste ist banal: Kaum jemand kann schwimmen.

Also wirklich schwimmen: Sich 25, 50 oder 100 Meter über Wasser zu halten, ist nicht Schwimmen. Das ist Nicht-Ertrinken. Und hat zwei Haken: Den Beckenrand und die Dauer.

Probieren Sie es: Können Sie (untrainiert und aus dem Stand) 15 Minuten durchgehend zügig schwimmen? Also ohne jedes zwischendurch-Abstoßen am Beckenrand? In einem Normalo-Durchschnittstempo werden Sie für 100 Meter etwa zweieinhalb, vielleicht ja auch drei Minuten brauchen. Kein Problem, denn um Geschwindigkeit geht es hier nicht, aber um die Dauer: 15 Minuten. Das wären 500 bis 700 Meter.

Schon bei der olympischen Triathlon-Distanz müssten Sie allerdings eineinhalb Kilometer schwimmen. Bei der Mitteldistanz 1,9. Beim Ironman 3,8 … Danach wird es aber einfach: Radfahren kann ja eh jeder. Und laufen auch.

Viel Spaß also beim Selbstversuch über 15 Minuten – bleiben Sie lieber in Ufernähe. Sicherheitshalber.

Foto: thomas rottenberg

Ich meine das ohne Häme: Vielleicht ist der Poster ja tatsächlich eine dieser Ausnahmen. Und auch einer jener Menschen, die ihre körperliche Fitness, Kraft und Ausdauer richtig einschätzen.

Davon gibt es nämlich wenige. Und die meisten Trainer und Experten treffen in ihrem sportlichen Alltag eher auf die anderen: Auf Menschen, die Sport jahrelang nur aus der Zuseher-Perspektive kennen – und mangels eigener Erfahrungswerte den Unterschied zwischen Spitzen- und Breitensport weder erkennen noch einordnen können.

Wenn die, was ja an sich gut ist, dann das Sofa verlassen, prallen Wunsch und Wirklichkeit aufeinander. Und die passen nur selten zusammen.

Foto: thomas rottenberg

Ich bat meinen Coach, mir ein paar Skurrilo-Geschichten von Leuten, die er in zwei oder drei Wochen "marathonfit – aber für unter drei Stunden" hätte machen sollen, auszuführen. Er verweigerte. Er sei kein "Don Quixote-Typ": Manches täte er sich nicht an, sagte Harald Fritz: "Ich kämpfe nicht gegen Windmühlen."

Eine kleine Geschichte entfleuchte ihm, als wir tags darauf über meine aktuellen Trainingsumfänge sprachen (letzte Woche: 14 Stunden, exklusive der drei Yoga-Einheiten, dazu nächste Woche mehr) aber doch: Die von einem Mann, der erklärte, die Ironman-Volldistanz (3,8 Kilometer Schwimmen, 180 am Rad und 42,2 Kilometer Laufen) gelte nur, wenn man "ohne Training" anträte.

Kurz darauf, so Fritz, habe der Mann aber ein Sabbatical genommen, um genug Zeit und Energie zu haben, sich vorzubereiten. Er schaffte seinen Ironman – wäre aber trotzt intensivem Training und Auszeit um ein Haar am Schwimm-Cut-Off gescheitert: Er schwamm die 3,8 Kilometer in zwei Stunden und 18 Minuten. Nach 2:20 wäre er raus gewesen.

Stolz aufs Finishen ist er heute trotzdem – zurecht.

Foto: thomas rottenberg

Auch Sandrina Illes formuliert bewusst vorsichtig: "Mir ist schon einiges untergekommen," erklärt die Laufanalytikerin, die auch Trainingsgruppen betreut, in der Spitzen- bis Jedermann-Athletinnen und -Athleten laufen. "Ich bin der Typ, der nicht kommuniziert, dass alles easy-cheesy im Vorbeigehen geschafft werden kann. Das lässt potenzielle Kunden das eigene Vorhaben vorsichtiger formulieren. Mit ‚Gschichtln' kann ich also weniger aufwarten, weil sich so mancher Leser dann sehr, sehr angesprochen fühlen könnte. :D"

Dabei kann Illes im Gegensatz zu vielen Online-"Experten" niemand die Kompetenz absprechen: Sie ist (derzeit und unvollständig) Staatsmeisterin im Crosslauf, 3000 Meter Halle, 10.000 Meter Freiluft und Halbmarathon. Dazu kommt der Titel als österreichische Meisterin im 10 Kilometer – Straßenlauf. Ihr subjektiv schönster Erfolg heuer war bisher der EM-Titel über die Duathlon-Mitteldistanz, zu dem der der Staatsmeisterin im Duathlon gut passt. Nebenbei behauptet Illes seit 2017 den Platz als Weltranglisten-Erste im Duathlon.

Dennoch (oder gerade deshalb) weiß sie genau, wem sie was wie sagt: "Wer anderen Tipps gibt, muss sich auf dessen Ausgangslage einstellen: Wenn man selbst problemlos ohne Training aus dem Stand 5 Kilometer durchlaufen kann, dann hat man ein sportliches Level, mit dem sicher nicht die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung aufwarten kann."

Foto: stefan jeschke

Aus dem langjährigen Umgang mit Sportlern weiß Illes noch etwas: "Viele Menschen haben Schwierigkeiten, das eigene Leistungslevel und die Trainierbarkeit einzuschätzen und zu erkennen, wie groß die Unterschiede zwischen zwei auf den ersten Blick vergleichbaren Personen sein können. So kann ein 30jähriger Mann, aktuell "gar nicht im Training", aufgrund seiner Fußballvergangenheit in der Jugend vielleicht besser auf das Lauftraining ansprechen, als der Gleichaltrige, der die Zeit am Computer verbracht hat. Kann sein, dass das Leistungslevel zu Beginn des Trainings ähnlich ist – aber nach ein paar Wochen schaut es anders aus."

Denn der Gleichheitsgrundsatz gelte im Sport nicht. Leider: "Es ist schwer zu akzeptieren, dass das Maximum, das man unter idealen Bedingungen über Jahre herausholen kann, vielleicht nicht so hoch liegt wie bei anderen." Sie versuche daher ihre Sportler dazu zu bewegen, "sich nur mit sich selbst zu vergleichen."

Das setze ein Vertrauensverhältnis voraus – und dafür müsse Grundlegendes geklärt sein. Etwa, dass Instant-Zauberformeln aus Lifestyle-Magazinen und dem Netz selten funktionieren: "Der Mythos des 12-Wochen-Marathonplans hält sich hartnäckig. Läufer, die noch nie nach Plan trainiert haben, tendieren dazu, sich so vorbereiten zu wollen, vergessen aber die Vorbedingungen: Wenn der längste Lauf über 10 Kilometer geht, der Wochenumfang im Durchschnitt bei 15 Kilometer liegt und die Zielzeit utopisch ist, sind Verletzungen und Frustration vorhersagbar."

Foto: stefan jeschke

Womit die Spitzensportlerin bei einem der großen Dilemma der Lifestyle-Sportlerei wäre: Dem große-Zahlen-Fetischismus: "Ich finde es schade, dass viele so sehr am Marathon und Ironman hängen, weil alles andere ‚irgendwie nicht so viel wert‘ ist."

Denn das führe oft zum nächsten sich-in-die-Tasche-lügen: Den Trainingsumfängen. "Die Formulierung der eigenen Trainingsmöglichkeiten strotzt oft, trotz digitaler Aufzeichnungen, vor Überschätzung. Wenn jemand angibt, ‚locker immer um die 10 bis 12 Stunden‘ zu trainieren und dann bei acht Stunden Grundlage am Limit ist, war die Beschreibung des bisherigen Trainings nicht ganz wahrheitsgemäß."

Manches geht sich nämlich einfach nicht aus: "Triathlon neben Vollzeitjob, Überstunden und Familie – und das mit großen Ambitionen? Wenn ich den Aufwand für das Training von drei Sportarten plus Krafttraining plus Anfahrtwege vorrechne, wird oft zurückgerudert."

Von denen, die zuhören. Denn es gibt auch die anderen. "Die ‚Kunden aus der Hölle’ :D – selten, aber doch: Leute, die alle Verantwortung abgeben wollen und ganz konkrete Vorstellungen haben, die man als Pflichtenheft-Erfüllung auf wundersame Weise wahr machen soll. Sie vergessen, dass der Aufwand vom Sportler selbst getrieben werden muss."

Foto: stefan jeschke

Mit "Kunden aus der Hölle" oder Menschen mit Baumeister-Bob-Syndrom ("ja, wir schaffen es" – und zwar aus dem Stand) schmunzelt Walter Kraus, habe er "wenig zu tun, weil sie eh nicht zu mir kommen: Sie können es ja offensichtlich besser." Kraus ist Trainer, Sportwissenschaftler und Betreiber des bewusst auf Jedermann- und -frau-Athleten fokussierten Labels "Runtasia". Auch zu ihm kommen immer wieder Kunden, die nicht nur mit guten Vorsätzen, sondern eben auch utopischen Vorstellungen ihre Komfortzone verlassen wollen: "10 Wochen vor dem Wien-Marathon kommt eine Dame mit dem Wunsch, beim Wien-Marathon teilzunehmen, zu mir. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, ihr den Marathon aus- und den Halbmarathon einzureden, kam nach dem Leistungstest heraus, dass sie den Marathon im Optimalfall mit einer Zielzeit kurz vor dem Zielschluss laufen könnte: Sechs Stunden. Sie schaut mich verständnislos an: ‚So lange will ich nicht laufen! Maximal vier Stunden!´ Mit zwei Trainingseinheiten pro Woche … schlussendlich sind es die 10 Kilometer beim Frauenlauf geworden." Mit Erfolg: "Sie ist durchgekommen."

Beispiel zwei: "Eine 42 Jährige, die regelmäßig läuft, keine Wettkampferfahrung hat, aber voll motiviert ist, hat eine klare Zielvorstellung: Sie will beim Frauenlauf die 10 Kilometer unter 40 Minuten laufen. Ich gebe zu bedenken, dass sie dann zu den fünf schnellsten Frauen Österreich gehören würde. Daraufhin hat sie ihr Ziel geändert: ‚Naja, dann versuchen wir doch mal mit 60 Minuten…´."

Foto: runtasia.at

Natürlich heißt das alles nix. Eben weil es auch die anderen gibt. Die, die das alles aus dem Stand schaffen. Kalt. Ohne Training. Mit Zielzeiten, die für Durchschnittssportlerinnen und -sportler unerreichbar sind. Die dabei auch noch lächeln und unfassbar gut aussehen. Und nie schwitzen.

Jeder kennt so jemanden. Oder kennt wen, der wen kennt, der dabei war, als… und so weiter.

Man findet diese Leute auch im Netz. In den sozialen Medien. Als Poster: Dort kann man im Schutz der Anonymität nämlich ziemlich alles behaupten. Und das Beste daran: Man wird nie in die Verlegenheit kommen, es beweisen zu müssen. (Thomas Rottenberg, 6.6.2018)

(Zu den Trainingsumfängen, die einer, dem das "aus-dem-Stand-super-Gen" fehlt, für mittelmäßige Leistungen braucht, gibt es an dieser Stelle nächste Woche mehr zu lesen.)

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