Alexander Kluge sieht das Museum als Werkstatt.

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Die Kamera, mit der Alexander Kluge alle seine Kinofilme und Werner Herzog sein Frühwerk gedreht hat.

© Belvedere, Wien, 2018 / Foto: Johannes Stoll

Nach dem Film, der Literatur und dem Fernsehen hat Alexander Kluge nun auch noch die Kunstwelt entdeckt. Den Anfang machte eine Gruppenausstellung in der Fondazione Prada, dann folgte eine Retrospektive im Museum Folkwang in Essen. Und nun ist im 21er-Haus in Wien die Ausstellung Pluriversum. Die poetische Kraft der Theorie zu sehen. Kluge, den wir im Vorfeld der Eröffnung ebendort trafen, spricht von einer Wunderkammer der Bezüge, die er nicht ohne Mitarbeiter realisieren wollte. "Ich bin der Hilfsgärtner der Kritischen Theorie – die Poesie ist da nicht so anerkannt, aber die Pflanzen wachsen ja nicht von allein."

Ground control to Major Tom: In seiner Ausstellung "Pluriversum" will Alexander Kluge Konstellationen schaffen, die Objekte wie Sternenkörper zueinander in Beziehung setzen.
Foto: Kairos Fiilm

STANDARD: In Ihrer Ausstellung ist Thomas Demands Fotografie "Backyard" zu sehen, für die er den Hinterhof eines Hauses rekonstruiert hat, in dem der Attentäter von Boston lebte. Eine Scheinidylle, samt blühendem Garten. Was fasziniert Sie daran?

Kluge: Die Täuschung. Was so aussieht wie die Kirschblüte in Japan, ist die Fußspur eines Mörders. Dann sind Sie schon bei Poetik, bei Hölderlin, der in einem Gedicht von der Fußspur des Herzogs Ulrich von Württemberg schreibt. Dass der, den er liebt, auf dieser Erde gelaufen ist, gehört zur Wirklichkeit dazu. Das ist der Antagonismus des Gefühls, der Antirealismus. Das verbindet mich mit Demand. Der Abbildrealismus hat zwei Schwächen: Er bezieht das Narrativ nicht ein, das die Menschen entgegensetzen. Den Hintergrund kann ich durch Hingucken auch nicht verstehen. Es liegt eine Übertreibung darin, wenn man sagt, man kann die Wirklichkeit verstehen.

STANDARD: Dazu fällt mir ein Interview über den IS ein, in dem Sie vom Zerreißen der Wirklichkeit in etliche Parallelwirklichkeiten sprachen. Hat sich dieser Eindruck seitdem noch verstärkt?

Kluge: Extrem. Wenn Menschen ganz auf das Funktionale reduziert werden, durch die Gesellschaft oder die Globalisierung, dann halten sie das irgendwann nicht mehr aus und suchen das Imaginäre. Das kann ganz dunkel werden, wie von 1929 bis 1933; und es kann viel harmloser sein, wenn Arbeiter des Rust Belt einen Präsidenten wählen, der sich all das traut, was sie gerne selbst machen würden.

STANDARD: Die Unberechenbarkeit Trumps ist für Sie also auch Ausdruck von Mut?

Kluge: Die Menschen leihen sich diesen Mut. Der tut dann noch das Abstruseste, nur um sich selbst nicht zu verlassen. Aber er zeigt auch guten Willen, weil er die Versprechen, die er im Wahlkampf gab, halten will. Es ist wie bei Sechsjährigen in der Schule: Du hast mit ein Stück Knete gegen einen Wollfaden versprochen!

STANDARD: Die Pragmatik traditioneller Politik ist da nicht mehr gefragt.

Kluge: Ja, was Trump tut, ist antirealistisch. Das ist eine Sache, die die Poetik erkennen kann, nicht die Informatik. Im Silicon Valley würde man sich an ein Abteilungsschema der Wirklichkeit halten. Algorithmen sind kleine mathematische Katzen. Sie sind weltmächtig. Ich unterschätze sie keine Sekunde. Diese Algorithmen werfen Wirklichkeiten ab. Das Geschirr reicht aber nur für zwölf weise Frauen, also muss die 13. Fee ausgeschlossen werden. Ich bin der Anwalt der 13. Fee, dadurch kann ich einen anderen Blick auf das Weiße Haus werfen.

STANDARD: Bleiben wir bei den Algorithmen: Diese sortieren aus, schaffen Öffentlichkeiten. Wollen Sie zeigen, was verlorengeht?

Kluge: Ich will es aufsammeln wie die Brüder Grimm die Märchen. Deswegen findet sich im Film Happy Lamento die Arbeit von Khavn de la Cruz oder in den Ausstellungen Beiträge von Sarah Morris oder Kerstin Brätsch. Das sind gute Brücken. Es kommt weniger auf diese alte Originalitätsidee an, sondern darauf, Konstellationen zuzulassen. Wir haben eine Pinnwand in der Ausstellung zum Passagen-Werk von Walter Benjamin. Was hindert uns, mit dem Blick des 21. Jahrhunderts das 20. Jahrhundert Revue passieren zu lassen – ein Laboratorium solch bitterer Erfahrungen?

STANDARD: Werden die Räume für kritische Öffentlichkeit nicht kleiner?

Kluge: Da haben Sie recht. Meine Kinder schauen kein Fernsehen mehr. Was machen die, wenn es wieder ein 9/11 gibt? Wo gucken die nach?

STANDARD: Im Internet?

Kluge: Ja, aber die werden sie ein Echo von 70 verschiedenen Auffassungen finden.

STANDARD: Was könnte dieses Vertrauen herstellen, wenn sonst nur Widersprüche und Affekte übrig bleiben?

Kluge: Ein Shitstorm würde keine Neugierde wecken. Ich will es einmal so sagen: Ich habe das Netz bewundert, es hat ein Riesenpotenzial. Auch Gutenberg hatte großes Potenzial und hat Schrott gemacht und furchtbar viel Hetze – es gäbe keine Judenverfolgung ohne Druck. Über 200 Jahre wehren sich Menschen, und zum Schluss haben sie nur drei Bücher von Kant, und da steht alles drin, was man wissen soll. Eine kleine Apotheke.

STANDARD: Die gibt es aber für das Zuviel des Internets noch nicht, oder?

Kluge: Zweifellos nicht. Es gibt Inseln, Ansätze. Das wird sich aber wie in Korallenriffen organisieren. In nährstoffarmen Meeren nährt sich das Leben von Korallenriffen, so Darwin. Da müssen sie sehr verschiedene Sortierungen von Lebewesen finden. Das wäre eine Form des Gegenalgorithmus. Der braucht eine Formenwelt, die mehr Waldwegen ähnelt als betonierten Autobahnen.

STANDARD: In der Schau finden sich zahlreiche politische Schneisen, etwa zum Krieg in Syrien und zu den Flüchtenden, aber auch unser Kanzler Kurz hat einen Auftritt.

Kluge: Der ist aber positiv. Wir haben ihn über die jungen Reiteroffiziere befragt – wie Leutnant Gustl in Galizien 1914. Da ist er auf der Münchner Sicherheitskonferenz darauf eingegangen – das finde ich ganz gut. Da war er noch Außenminister. Er sagte, er kenne den Krieg selbst nicht, aber seine Eltern und Großeltern. Und er sieht ja so aus wie ein Husarenoffizier von 1914.

STANDARD: Aber er benimmt sich nicht ganz so ...

Kluge: Nein, aber immerhin beweist er Empathiefähigkeit und versetzt sich eine Minute lang ins Jahr 1914.

STANDARD: Was sagen Sie zu den Vergleichen der Gegenwart Deutschlands mit den 1920er- und 30er-Jahren, die angesichts der Erfolge der AfD immer wieder fallen?

Kluge: Wiederholen tun sich Strukturen, Wirklichkeiten nicht. Braunhemden sehe ich nicht. Die rechtsradikalen Jugendlichen, die sich verkleiden – da würde jeder Nationalsozialist sagen, die werden ausgeschlossen. Man nimmt den Nationalsozialismus nicht ernst, wenn man diese Nachahmung für nazistisch hält. Die AfD ist eine komplexe Größe, man könnte auch nach Ungarn oder Frankreich gucken und würde dort eine ähnlich virulente Unzufriedenheit bemerken, die ins Imaginäre zielt.

STANDARD: Eine Krise der Demokratie, des liberalen Grundverständnisses sehen Sie nicht?

Kluge: Liberalität ist ein luxuriöses, auf Generosität angewiesenes System. Sie müssen schon in einer relativ geglückten Gesellschaft leben, damit sich dort Liberalität verbreitet. In der Not gehen die Leute antirealistisch vor, sie verschieben die Not, beschuldigen Dritte. Die Menschenseele, das wird von Freud beschrieben, ist die eines Illusionstieres. Es ist raubgierig und illusionsfähig. Deswegen können Sie nicht darauf vertrauen, dass Menschen, die in Not sind und Angst haben, irgendetwas politisch richtig machen. Das ist eine Gefahr für jede Demokratie. Also muss man jetzt gleich anfangen, an das Jahr 2042 zu denken. Alles, wovor man sich fürchtet, kann man jetzt noch bekämpfen. (Dominik Kamalzadeh, 6.6.2018)