Das Interview von Armin Wolf mit Wladimir Putin war in zweifacher Hinsicht ein Meilenstein:

Erstens weil Wolf sich nicht scheute, die für Putin und Russland unangenehmsten Themen klar anzusprechen; er bewies damit erneut, was für ein Asset er für den ORF ist.

Zweitens, und das ist vielleicht bisher zu wenig beachtet worden: die Sensation, die darin liegt, dass sich Putin solchen kritischen Interviews überhaupt stellt – mit einer Selbstsicherheit, die zeigt, wie wenig Angst er davor hat, sich mit offenkundigen Unwahrheiten und Tatsachenverdrehungen auf einem internationalen Schauplatz durchzusetzen. Die alten Männer der Sowjetherrschaft hätten das niemals getan.

Putin ist ein moderner Autokrat, der das Klavier der Weltöffentlichkeit beherrscht.

Eine gewisse Irritation war ihm bei den Fragen anzumerken, die sich nicht auf das übliche "Friede und Völkerfreundschaft" und "Österreich und Russland als Traumpartner" beschränkten. Mehr als ein Dutzend Mal schulmeisterte er Armin Wolf, ihn doch nicht zu unterbrechen. Aber er hatte sich sehr gut im Griff, setzte eine ironische Miene auf – so nach dem Motto: Sehen Sie, wie liberal ich bin, dass ich mir diesen Unsinn anhöre? – und begann tatsächlich zu argumentieren.

Er ging auf jedes unangenehme Thema argumentativ ein: vom Abschuss der malaysischen Passagiermaschine mit einer Rakete russischer Herkunft, der Annexion der Krim und der verdeckten Kriegsführung in der Ostukraine, über die Unterdrückung der Opposition und die ewige Natur der Putin-Herrschaft bis zur Desinformazija-Kampagne gegen die EU und den Westen aus der Trollfabrik in St. Petersburg, die von einem Putin-Vertrauten geführt wird, und der Unterstützung rechtsextremer Parteien in Europa.

Die russische Verteidigungslinie zu alledem lautet generell: "Was immer es ist, wir waren es nicht." Und wenn, dann ist es erstens harmlos und zweitens unser gutes Recht als Weltmacht. Damit aber nicht genug, sondern es folgt eine in Teilen sogar nachvollziehbare Argumentation nach dem Muster: Der Westen hat Vorurteile gegen Russland, all diese Vorwürfe sind nicht genau untersucht und jedenfalls ohne russische Experten untersucht; was so ein russischer Oligarch mit seiner Trollfabrik treibt, geht mich nichts an – "glauben Sie, dass ein Restaurantbesitzer amerikanische Wahlen beeinflussen kann?" – und so weiter.

So wird Verwirrung und Zweifel gesät, mit Argumenten, die im Augenblick plausibel sein mögen, aber bei kurzem Nachdenken (und Faktencheck) keine Substanz haben.

Putin zeigte nicht das Gesicht des unansprechbaren Gewaltherrschers, wie es ihn so oft in der russischen Geschichte gegeben hat. Er lässt sich auf Diskussionen ein, weil er weiß, dass sie ihm nicht schaden und bei den Putin-Verstehern im Westen nur nützen können. Seine Botschaft ist: Letztlich sind wir euch naiven und schwachen Westlern überlegen, die uns unseren Platz in der Weltordnung nicht zugestehen wollen. Da kann man sich schon einmal auf ein amüsantes kleines TV-Interview einlassen. (Hans Rauscher, 5.6.2018)