Unter Absingen vaterländischer Gesänge: Zoff im Hörsaal 1.

Foto: Khasaq / Günter Brus

Dem österreichischen Boulevard kam sein "Fäkalienfest" offenbar sehr gelegen. Die Aktion Kunst und Revolution war am 7. Juni 1968 im Hörsaal 1 des Wiener NIG kaum zu Ende gegangen, da meldeten sich schon die ersten Zeugen zu Wort.

Der Express-Artikel des heutigen Krone-Journalisten Michael Jeannée erschien zwei Tage nach dem multiplen Tabubruch. Er wird vom Autor noch als (vermeintlich) nüchterner Tatsachenbericht ausgegeben. Unter dem Titel "Sex-Orgien radikaler Studenten" ist eine Bestandsaufnahme zu lesen, deren sachliche Unbeholfenheit ("Inzwischen hat ,der Blutige' sich umgedreht und seine Notdurft verrichtet ...") den Skandalgehalt des aktionistischen Ereignisses noch übertrifft. Das Dilemma dieser ersten Interpreten bestand in der Notwendigkeit, sich in Stellvertretung für die Welt über den moralischen Verfall derselben zu entrüsten. Selbst im Banne des Erlebten stehend, gaben sich die Reporter von Krone oder Express als Staatsbürger zu erkennen, die das sittliche Allgemeinwohl im Auge behielten.

Eine "unfrohe" Kunde

Die Wahrnehmung des "Fäkalienfestes", in dessen Rahmen Günter Brus kotete, onanierte und die österreichische Nationalhymne sang, verschmilzt im Pressespiegel dieser Junitage daher mit seiner Interpretation. Unentwegt wird eine "Empörung" angesprochen, die schon deshalb nicht allgemein gewesen sein kann, weil nur rund 300 Zeugen dem konzertierten Handeln von Brus, Oswald Wiener, Otto Muehl, Peter Weibel und Malte Olschewski beigewohnt hatten.

Die Verbreitung der unfrohen Kunde glich der eines sorgfältig angezündeten Lauffeuers. Kaum war das erste Entsetzen gewichen, wollte man, eingedenk der Verantwortung für das christliche Abendland, dennoch nicht zur Tagesordnung übergehen. Ein Kommentator im genannten Express wähnte die Beteiligten im Besitz einer "fäkalistischen Weltanschauung". Als Hochschulfremde hätten die Täter auf universitärem Boden "die Begeisterung junger Menschen vor ihren Schmutzkarren" gespannt. Man werde sich, so der Boulevard, die Namen der Uniunholde schon merken.

Vor dem Kadi

Da waren die "Rädelsführer" bereits vor den Kadi gezerrt worden. Ehrensache, dass das mehr oder minder gesunde Volksempfinden wutschnaubend die Verhängung "saftiger" Polizeistrafen forderte. Denn, Hand aufs Herz: "Sind die Kacker wirklich ein Spiegelbild unserer Gesellschaft?"

Die sich in solchen rhetorischen Fragen bekundende Sorge mag geheuchelt gewesen sein. Sie lässt sich nur nicht in drei Sätzen abtun. Vor dem Gericht verteidigten Brus und Wiener tapfer das Recht der Kunst auf Autonomie. Die Verrichtung der Notdurft coram publico sei als "Demonstration des reinen Vorgangs" gedacht gewesen. Brus berief sich auf die Überschreitung der Grenzen des Tafelbildes. Der Körper rückte auf in die Rolle des zu bearbeitenden Gegenstandes. Doch in einem Land, in dem die Lehren Freuds weitgehend ignoriert wurden, schien die einzige denkbare Reaktionsform auf solche "frühkindliche" Umtriebe der Arrest.

Flucht ins Ausland

Den vermochten sich die Vertreter von Polizei und Justiz nur als "strengen" auszumalen. Die meisten Aktionisten flohen stante pede ins Ausland. In jenen Juni-Tagen war die Welt nicht nur in der Alpenrepublik aus dem Lot. Die Studenten machten Krawall, Willy Brandt besuchte Wien, Bruno Pittermann (SPÖ) sprach in Stockholm über die Zukunft der Sozialdemokratie. Er mahnte die Genossen zu "Kampfentschlossenheit" und "Kampfkraft". Die Alte Welt stand im Begriff, einer neuen zu weichen. Sie wirkte hoffnungslos mit sich überfordert. (Ronald Pohl, 7.6.2018)