60 Minuten lang stand Kanzlerin Angela Merkel an ihrem Platz und beantwortete eine Frage nach der anderen aus dem Plenum.

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Tony Blair hat keine guten Erinnerungen an Befragungen im britischen Unterhaus. "Die Prime Minister's Questions waren ohne Zweifel die nervenaufreibendsten, peinlichsten, angespanntesten Momente in meiner Karriere als Regierungschef" – erinnert sich der britische Premier (1997 bis 2007) in seiner Autobiografie. Er habe sich oft wie beim Gang zum Schafott gefühlt.

Derlei Grusel ist Angela Merkel nicht anzumerken, als sie am Mittwoch im Plenum des Bundestags erscheint und ihren Platz auf der Regierungsbank einnimmt. An diesem Tag steht für die deutsche Kanzlerin, die in ihrer 13-jährigen Amtszeit schon so vieles erlebt hat, eine Premiere an.

Nur eine Minute pro Frage

Zu verdanken ist dies der SPD, die Neuerungen in den Koalitionsvertrag reklamiert hat: In dieser Legislaturperiode muss die Kanzlerin bei der Regierungsbefragung dreimal pro Jahr selbst antworten und darf nicht mehr Minister oder Staatssekretäre vorschicken.

Weil das alles ungewohnt ist, braucht es einen, der zunächst die Spielregeln erklärt, und das ist Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). "Höchstens eine Minute je Frage und Antwort. Je kürzer die Fragen, desto mehr kommen zu Wort", stellt er klar.

Zum Aufwärmen darf Merkel über den bevorstehenden G7-Gipfel referieren. Sie erwartet aufgrund der Differenzen mit den USA bei Klimaschutz, Handel und dem Atomabkommen mit dem Iran "schwierige Gespräche". Da die AfD die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag stellt, kann sie danach die erste Frage stellen.

"Sehr verehrte ..."

Kommt jetzt ein Hammer? Etwas, das Merkel mal wirklich aus der Fassung bringt? Diese Frage steht vielen Abgeordneten ins Gesicht geschrieben, auch Merkel schaut ein wenig angespannt. Doch AfD-Mann Hansjörg Müller verschießt den Elfmeter. Er will von der "sehr verehrten Frau Bundeskanzlerin" wissen, welche "konkrete Strategie" sie im Verhältnis zu Russland verfolge.

Es gibt noch mehr Fragen, die Merkel gefallen haben dürften, etwa aus der CDU-Fraktion: "Wie geht es nach dem Ausstieg der USA mit dem Klimaabkommen weiter?" Oder aus der SPD: "Was tun Sie konkret für die Zukunft Europas?" Der FDP-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff bedankt sich sogar "ganz herzlich" für den Bericht der Kanzlerin.

Da hat es Merkel nicht schwer zu erklären, was sie sonst auch sagt. Dass man den Gesprächsfaden zur Russland trotz der Differenzen nicht abreißen lassen dürfe. Und: "Wir müssen konsistenter werden in der Außen- und Sicherheitspolitik."

Applaus geht von der Zeit ab

Es gibt immer wieder Applaus aus der Union. Doch Schäuble macht deutlich, dass Merkel sich darüber nicht freuen sollte: "Beifallsbekundungen gehen auch von den 60 Sekunden ab."

Nach 30 Minuten kommt der offene Teil. Jetzt dürfen die Abgeordneten zu allen Themen fragen. Wieder ist die AfD als Erste dran, sie greift die Missstände im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf. Der Abgeordnete Gottfried Curio spricht von "Migrantenflut" und fragt: "Wann ziehen Sie persönlich die Konsequenz? Wann treten Sie zurück?"

Merkel lässt sich nicht provozieren. Sie antwortet ruhig und bestimmt: "Deutschland hat verantwortungsvoll gehandelt. Die politischen Grundentscheidungen waren richtig." Ausdrücklich dankt sie den Mitarbeitern des Bamf "in ihrer großen Mehrheit". Sie hätten in der schwierigen Zeit eine "große Leistung" erbracht.

Kein Badespaß für Nazis

Auffällig: Bei der AfD fragen die Fraktionschefs Alice Weidel und Alexander Gauland selbst gar nicht. Gauland schaut in der ersten Reihe, ganz rechts außen, gelegentlich etwas abwesend. Vielleicht denkt er an seine Kleidung. Die hat ihm jemand samt Schlüssel, während er in einem Potsdamer See unweit seiner Wohnung schwamm, gestohlen. "Kein Badespaß für Nazis", soll der Dieb gerufen haben. Gauland wurde daraufhin von der Polizei in der Badehose nach Hause begleitet.

Die Grünen thematisieren erwartungsgemäß die Umrüstung für alte Diesel und den Plastikmüll, die Linken das Problem zu hoher Mieten. Ob sie glaube, dass es wirklich allen Menschen in Deutschland gutgehe, will Jan Korte (Linke) wissen. "Ich glaube, dass es vielen Menschen besser gehen sollte", antwortet Merkel und betont, dass die Koalition Familien ja entlasten wolle.

Je mehr Zeit vergeht, desto souveräner wirkt Merkel. Nach 30 Fragen und 60 Minuten erklärt Schäuble, dass man nun am Ende der Befragung angekommen sei. Merkel lächelt und sagt: "So schade es ist, es ist halt zu Ende." Doch sie verspricht: "Ich komme ja wieder." (Birgit Baumann aus Berlin, 7.6.2018)