Uridee des Liberalismus und der Aufklärung – und was daraus wurde: das Modell des neuen Stadtschlosses in Berlin, künftig das Humboldt-Forum, benannt nach dem großen Humanisten und Aufklärer Alexander von Humboldt. Stiftungschef Neil MacGregor (li.) mit zwei heutigen Verteidigern des Liberalismus, Emmanuel Macron (Mi.) und Angela Merkel (re.)

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Es war eine Alarmrede. Im April dieses Jahres warnte der französische Präsident Emmanuel Macron vor dem Europäischen Parlament in Straßburg vor den Gefahren für die liberale Demokratie in Europa. Die "illiberale Faszination wird von Tag zu Tag größer", in manchen Ländern der EU, er meinte klar Ungarn und Polen, werde die liberale Demokratie infrage gestellt (mit dem Sieg der Populisten ist auch Italien dazugekommen). Macron nahm sich damit des größten politischen Themas unserer Zeit an, der Zurückdrängung der liberalen Demokratie in den Ländern des Westens und des ihr drohenden Ersatzes durch eine illiberale oder autoritäre Demokratie mit populistischen Zügen.

Eine illiberale, autoritäre oder auch gelenkte Demokratie ist eine, in der zwar Wahlen stattfinden, die sogar einigermaßen frei sein können (wenn auch nicht fair), aber die Macht im Staat längst in einer Hand konzentriert ist – durch Einschüchterung der Opposition, der kritischen Öffentlichkeit und ihrer Medien, durch die Unterwanderung und Entmachtung der wichtigsten Institutionen wie etwa der Höchstgerichte.

Es geht uns etwas an

Was geht uns das an? Was bedeutet es, liberal zu sein oder eben nicht, heute für den einzelnen Bürger? Warum soll man liberal sein? Vielleicht, weil die liberale Demokratie das erfolgreichste politisch-ökonomisch-kulturelle Modell der Geschichte ist?

Die liberalen Demokratien des Westens sorgen nun seit 70 Jahren für Frieden und Wohlstand. Sie beruhen letztlich alle auf dem Fundament des Liberalismus. Auch konservativ oder sozialdemokratisch regierte Staaten und Gesellschaften tun das.

Im Liberalismus steckt das lateinische Wort für "freiheitlich": die Freiheit von einem tyrannischen oder auch übertrieben bevormundenden Staat oder entsprechenden gesellschaftlichen Erscheinungen (zum Beispiel Oligarchie, Herrschaft der wenigen Reichen oder Nationalismus). Der Liberalismus ist daher immer auch für Toleranz und gegen Unduldsamkeit (Nationalismus, Rassismus). Gleichzeitig stellt er das Recht des Bürgers in den Vordergrund, durch freies Wirtschaften zu Wohlstand und Eigentum zu gelangen.

Schatz der Aufklärung

Liberalismus entstand, als sich im England des 17. Jahrhunderts der Gedanke durchzusetzen begann, dass das "Gottesgnadentum" eines absoluten Herrschers und die "allein selig machende Kirche" eher Hindernisse der menschlichen Entwicklung als die gottgewollte Ordnung seien. Der Liberalismus ist sowohl eine politische Philosophie als auch eine praktische politische Bewegung, allerdings in vielen Ausprägungen (siehe Lexikon).

Der Liberalismus ist ein Kind der Aufklärung, also schon einige Jahrhunderte alt. Aber seine Ideen haben sich breitflächig durchgesetzt. Die liberale Demokratie ist in Wirklichkeit das Fundament der modernen westlichen Gesellschaft. In ihr verkörpert sich die freie Teilnahme aller Bürger am ungehinderten, aber fair geregelten Wettbewerb um politische Vertretung. Freie und faire Wahlen, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Medienfreiheit sowie der Schutz fundamentaler Rechte sind ihre Prinzipien.

Die EU und Österreich

Letztlich ist auch die Europäische Union ein Kind des Liberalismus. Ihre Gründungsideen – Frieden durch Interessenausgleich und Toleranz, Wohlstand durch Marktwirtschaft – sind liberal, obwohl ihre Gründerväter Christdemokraten waren.

Österreich ist übrigens kein besonders liberales Land. War es nie. Dafür haben 650 Jahre Habsburg und katholische Kirche, sieben Jahre Nationalsozialismus und 50 Jahre rot-schwarze Parteienherrschaft gesorgt. Der Begriff "liberal" ist auch nicht wirklich Teil der politischen Umgangssprache.

Als "Linker" diffamiert

Ein Blick in die Internetforen (auch des STANDARD) beweist: Wenn man in Österreich gegen Nationalismus, Autoritätsgläubigkeit, Intoleranz und Frauenhass ist, gilt man nicht als liberal, sondern als Linker. Mit abwertendem Unterton. Einerseits. Andererseits findet in Wien seit 25 Jahren ein Life Ball statt, unter Beteiligung politischer Prominenz, der in seiner ostentativen Tabubrecherei vor 40 Jahren, zur Regierungszeit des "Sonnenkönigs" Kreisky, zu kollektiven Hassausbrüchen geführt hätte.

Andererseits brechen heute in Österreich an allen Ecken und Enden vollkommen illiberale, fremdenfeindliche, frauenfeindliche, fremdenhasserische bis NS-affine Meinungskotzbrocken hervor, die nicht mehr unter "Einzelfälle" einzuordnen sind.

Wenig Platz für liberal

Das gesellschaftliche Klima in Österreich ist, nach den Untersuchungen des Sora-Instituts, links, wenn es um mehr Staat, besonders Sozialstaat und Umverteilung, geht – und rechts, wenn es um Flüchtlinge und Einwanderer geht. Für "liberal" ist dazwischen nur relativ wenig Platz. Oder genauer, für eine liberale Partei ist relativ wenig Platz.

Für Liberalismus als Prinzip müsste in allen demokratischen Parteien Platz sein. Derzeit sieht das aber so aus: Die FPÖ war und ist antiliberal, die türkise Kurz-ÖVP ist in Ansätzen wirtschaftsliberal, aber gesellschaftlich ganz und gar nicht (mehr) liberal. Die Reste der Grünen sind linksliberal, die SPÖ hat einen linksliberalen und einen rechten Flügel, rein liberal sind nur die Neos.

"Führer"-Gläubigkeit

Das entspricht der Volksstimmung. Noch einmal Sora: In den letzten zehn Jahren ist die Zustimmung zu dem Satz "Es bräuchte einen starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss" von zehn auf 26 Prozent gestiegen. Noch krasser unter jungen Lehrlingen.

Was ist geschehen? Der SPÖ-Chef und Ex-Kanzler Christian Kern sagte in einer Falter-Diskussion der Oppositionsparteien, das linke und bürgerlich-liberale Milieu habe die Hegemonie "in einem einzigen Punkt verloren, in der Migrationsfrage".

Gegenseitige Vorwürfe

Haben nicht der Liberalismus und eine liberale Politik versagt, und zwar in den Augen der Linken wie der Rechten? Für die europäische Linke ist der Wirtschaftsliberalismus oder "Neoliberalismus" schuld am "Sozialabbau" und der "Macht der Konzerne", symbolisiert durch die Finanzkrise und Freihandelsverträge wie Ceta oder TTIP. Für die europäische und amerikanische Rechte ist der gesellschaftliche Liberalismus schuld an der "Überfremdung", "Umvolkung" etc. durch (muslimische) Zuwanderer und Flüchtlinge. Gleichzeitig ist er aber auch schuld am Verlust vertrauter Zustände, Lebensformen, der "Heimat". Schuld an der Überwältigung durch "bunte", aber viel zu anstrengende "Vielfalt".

Elite ängstigt Mittelschicht

Überall Kopftücher, aber eben nicht die unserer Großmütter, sondern an kleinen Mädchen. Und die Wut darüber, dass eine ethnische Mehrheit nicht mehr unbestritten die Vorherrschaft innehat. Die Wahl des Möchtegern-Autoritärdemokraten Donald Trump ist letztlich auf die Furcht der Weißen in den USA zurück zuführen, ihre Hegemonie zu verlieren. Zum Untergang der linksliberalen Grünen trug bei, dass sie zuletzt nur noch für Verstiegenheiten standen: die Binderei, die Basisdemokratie, die Konzentration auf Minderheitenpolitik.

Im Spiegel macht die Soziologin Cornelia Koppesch die "kosmopolitische Elite" und ihre Meinungsführerschaft dafür verantwortlich, dass "die traditionelle Mittelschicht um ihren Platz im System fürchtet – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell".

Liberal sein heißt aktiv sein

Also was soll ein liberal Denkender heute konkret tun?

Verknappt lautet die Antwort: Liberal zu sein bedeutet heute, den autoritären Versuchungen nicht nachzugeben. Ja, sie sogar aktiv zu bekämpfen. Es bedeutet umgekehrt, gewisse liberale Verstiegenheiten auf ein vernünftiges Maß zurückzufahren, dabei aber niemals die Grundsätze der Humanität, der Weltoffenheit, der Toleranz zu vergessen.

Aber es bedeutet auch, neoliberale Verstiegenheiten scharf zu beobachten und auf politischer Ebene zu kontern. Die Finanzkrise ist eine Folge der Ultra-Liberalisierung des Finanzwesens. Die Krise ist vorläufig überwunden, einigen ist die Lust auf die Zockerei vergangen, aber von strengeren Regularien ist nichts zu sehen.

In Staaten mit relativ wenig Wettbewerbsfreiheit und viel Bürokratie für Unternehmen wie Österreich gibt es "neoliberalen" Reformbedarf. Aber man muss aufpassen, dass daraus nur eine Reform und nicht eine Zerschlagung von Institutionen wie etwa der Sozialversicherungen wird.

"Sich Kümmern" ist alternativlos

Ein Ansatzpunkt ist das größte Problem, die mangelnde Integration. Die türkis-blaue Regierung macht es zur Politik, Zuwanderer und Flüchtlinge schlecht zu behandeln, damit sie wegbleiben. Dabei geht sie aber kontraproduktiv vor: Gute Deutschkenntnisse zu verlangen und das Geld für Deutschkurse zu streichen ist zugleich bösartig und inkompetent.

Sich dem Widerstand dagegen – in den NGOs – anzuschließen wäre eine Möglichkeit. Sie brauchen immer Freiwillige. Fast noch wichtiger und noch schwieriger wäre es, sich um die Zuwanderer zu kümmern, die schon länger hier sind.

Hinschauen ist Pflicht

Die Parallelgesellschaften gibt es, und sie müssen durch Kontakt aufgeweicht werden. Es gibt zig private Initiativen, wo honorige Steuerberater Kopftuchmädchen Nachhilfe geben. Die STANDARD-Kolumnistin Barbara Coudenhove-Kalergi etwa gibt Deutschkurse für Migrantenmütter.

Gleichzeitig müssen die (links) liberalen "Progressiven" der Stadt Wien endlich ihre Realitätsverweigerung ablegen. Es gibt Problemschulen, Problemgruppen und Problemburschen. Das lässt sich nicht länger leugnen, auch wenn die Hysteriezeitungen Kampagnen betreiben.

Klug und pragmatisch sein

Die Regierung will Österreich umbauen. Die Vorgangsweise ist klar: Die FPÖ fuhrwerkt brutal-plump herum, Kurz sieht dabei zu und steuert mit sanfter Manipulation. Und die geht, außer in Wirtschaftsfragen, nicht in Richtung mehr Liberalität. Der scheidende Neos-Chef Matthias Strolz fürchtet: "Ich denke, wir sind nicht so weit von einer gelenkten Demokratie entfernt." Dagegen ist legitimer politischer Widerstand der Zivilgesellschaft erlaubt.

Nein, "wir können nicht alle aufnehmen". Ja, wir hätten 2015 bei Manchen genauer hin sehen können. Aber genau die Autoritären, die sich jetzt aufregen, saßen 2015/16 schon in den Ministerien und haben bei der rein technischen Bewältigung des Zustroms zunächst versagt.

Eine liberale Flüchtlingspolitik ist vor allem eine klug-pragmatische. Nicht Asylwerber justament in Massenquartieren "konzentrieren", sondern die besten Lösungen suchen. Und vor allem zugeben, dass die Probleme letztlich ganz gut bewältigt wurden. Vorläufig. Es warten aber nicht wenige langfristige Probleme auf uns, keine Frage. Deren "Lösung" darf man aber nicht den Antiliberalen überlassen. Liberal sein heißt, sich zu beteiligen. (Hans Rauscher, 7.6.2018)