"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"
"Vampyr"

Wenn die allgegenwärtigen Zombies das Proletariat der Horrormenagerie der Popkultur stellen, sind Vampire – natürlich – die Aristokraten. Und sie waren nie wirklich aus der Mode: Vor "Twilight" und "True Blood" gab es – neben vielen, vielen anderen – die noblen Blutsauger von Anne Rice, Christopher Lees zeitlos trashigen Dracula, die verstörenden Nosferatus von Kinski und Murnau und natürlich Bram Stokers Roman, der die moderne Vampirbegeisterung erst so richtig ins Rollen brachte.

Kurzum: Es ist popkulturell dicht bestelltes Gebiet, auf das sich das französische Entwicklerstudio Dontnod, bestens bekannt als Schöpfer des Welterfolgs "Life is Strange", mit seinem neuen Action-Rollenspiel "Vampyr" (Windows, PS4, Xbox One 49,99 Euro) hinauswagt. Auch im Computerspiel ist und war kein Mangel an untoten Blutsaugern, der prominenteste Vorgänger "Vampire the Masquerade: Bloodline" gilt immerhin seit auch schon wieder 14 Jahren als ultimativ gellungenstes Spiel für Vampirfreunde.

Eins vorweg: An diesem Ranking ändert sich nichts. "Vampyr" kommt durchaus nah an die Qualität des großen Klassikers heran, überflügelt diesen aber wegen einiger ärgerlicher Patzer nicht.

Story-Trailer zu "Vampyr".
PlayStation

Doctor Dracula

Doch der Reihe nach. Das Setting von "Vampyr" ist ebenso gelungen wie klassisch. Das nächtliche London ist kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs ein Ort des Schreckens, an dem nicht nur die grausame Epidemie der Spanischen Grippe für Leichenberge sorgt, sondern auch untote Monster, die Angst und Schrecken verbreiten. Ganz zu Beginn fällt der Protagonist Dr. Jonathan Reid einem solchen Blutsauger zum Opfer – und erwacht als neugeborener Vampir inmitten von Kadavern. Nach erster Desorientierung findet sich der untote Doktor als Arzt der Nachtschicht in einem konspirativen Spital, von wo aus zu Beginn sowohl die Suche nach seinem eigenen Schöpfer als auch jene nach einem Heilmittel für die die Stadt entvölkernden Epidemien – der natürlichen wie der übernatürlichen – ihren Ausgang nehmen.

Es bleibt, so eine Grundmechanik des Spiels, letztlich den Spielerinnen und Spielern überlassen, wie weit sich der düster-melancholische Held von den Resten seiner Menschlichkeit entfernt: Wer ohne Rücksicht harmlose Passanten und auch wichtige Spielfiguren aussaugt, entwickelt sich dank so erhaltener riesiger Mengen an Erfahrungspunkten mit Riesenschritten zum mächtigen Vampir. Wer sich hingegen aufs Töten feindseliger Gegner beschränkt und ansonsten seinen Blutdurst im Zaum hält, kann weitaus weniger schnell im Level aufsteigen, hat es so deutlich schwerer im Kampf – und ansonsten, so ein erster Kritikpunkt, nicht wirklich was davon. Richtig viel ändert sich in der letztlich linearen Haupthandlung nämlich nicht, egal, ob man als menschenverachtende Bestie oder guter Samariter durch London wandert – eindeutig eine verpasste Gelegenheit.

Kämpfen und Palavern

Die scheinbar moralische Wahl wird letztlich pragmatischerweise zu einer des Schwierigkeitsgrads, denn man kann als schwachbrüstiger Philanthrop den vielen Kämpfen zwar dank diesbezüglicher Fähigkeiten irgendwann mehr oder weniger aus dem Weg gehen, doch spätestens bei den Bosskämpfen ist es damit vorbei.

Apropos Kämpfe: "Vampyr" ist und bleibt ein story- und vor allem dialoglastiges Rollenspiel. Dass es sich in seinem Action-Anteil sowohl in Sachen sehr ähnliches Setting als auch in zentralen Spielmechaniken mit "Bloodborne" vergleichen lassen muss, tut ihm keinen Gefallen: Im Vergleich zur außergewöhnlichen Qualität des japanischen Kultspiels und dessen völlig anderer Ausrichtung fällt das Urteil über das vergleichsweise flache Kampf-Gameplay von "Vampyr" negativer aus, als es sein müsste.

Den bedeutendsten Teil des Spiels verbringt man allerdings ohnedies nicht mit den erst später ein wenig spannender werdenden Kämpfen, sondern mit Dialogen und dem detektivischen Aufdecken einer Vielzahl kleiner und größerer Hinweise zu Haupt- und Nebenmissionen. Die meisten der – gut gesprochenen – Charaktere haben einiges zu erzählen; nur ein Bruchteil davon ist allerdings auch spielerisch relevant. Zugleich sind sie potenzielle Opfer, die Dr. Reid nicht nur aussaugen, sondern auch heilen und sich um sie kümmern kann.

Tatsächlich kann man der Suche nach Zutaten für diverse Heilmittel und deren Herstellung und – vor allem – mühsamen Verteilung in den einzelnen Stadtvierteln viel, viel Zeit widmen, wenn man will. Auch "böse" Spielerinnen und Spieler werden dazu motiviert, weil gesunde Opfer mehr Erfahrungspunkte hergeben; diese mehr oder weniger optionale "Pflege" der einzelnen Stadtviertel und ihrer Bewohner kann aber auch schon mal in mühsamen Grind ausarten.

Multiple Choice mit ungewissem Ausgang

Was in einem Spiel mit derart großem Fokus auf Handlung, Charaktere und eine dichte Atmosphäre aber unverständlich bleibt, ist die Tatsache, dass manche der am Ende der Missionen zu treffenden Dialogentscheidungen teils absurd drastische Auswirkungen haben, die zuvor vom Spiel kaum kommuniziert werden. Diese Unvorhersehbarkeit mancher Ereignisse ist ein Ärgernis: Wer etwa wegen einer einzelnen, nicht offensichtlich falschen Entscheidung wichtige Charaktere ohne Absicht dem Tode weiht und zugleich ganze Distrikte Londons dem blutigen Chaos preisgibt, bleibt mit einem schalen Geschmack im Mund zurück.

Und weil "Vampyr" sich darauf versteift, nur einen einzelnen Save-Punkt anzulegen, ist Experimentieren oder auch nur das Lernen aus Fehlern auf einen jeweils anderen Spieldurchlauf beschränkt. Das macht das ohnedies überraschend lineare Rollenspiel zum oft übertrieben ernsthaften Drama, in dem eigentlich aus Versehen oder wegen mangelnder Information falsch getroffene Entscheidungen zu abrupten, dramatischen Brüchen führen – gerade den Machern von "Life is Strange" wäre hier etwas mehr Gespür für narratives Signposting zuzutrauen gewesen.

Im Menügewirr

Ein weniger fundamentaler, aber dennoch ärgerlicher Kritiknebenschauplatz ist dabei die schlicht absurd überladene Gestaltung des Menü-Backends, in das Karten, Charaktereigenschaften, Quest-Logs, Skills, Inventories, Diagramme von Nebenpersonen jedes Gebiets und noch ungezählte weitere Elemente gestopft wurden. Dass Spiele mit komplexen Mechaniken auch in Sachen User-Interface-Design herausfordernd sind – geschenkt.

In Zeiten, in denen sogar der früher mal unkomplizierte Kriegsgott Kratos alle Controller-Buttons zum Navigieren seiner Dutzenden Verwaltungsmenüs benötigt, mag dieser Aufschrei anachronistisch sein, aber, zur Erinnerung: Weniger ist definitiv mehr, vor allem, weil der Beitrag des buchhalterischen Herumblätterns in starren MenÜ-GUIs erstaunlich wenig zur atmosphärischen Immersion beiträgt – wer hätte das gedacht.

Launch Trailer zu "Vampyr".
PlayStation

Fazit

All diese Kritik mag dramatischer klingen, als sie gemeint war: "Vampyr" ist ein atmosphärisch überzeugendes, trotz der erwähnten Schwächen über weite Strecken gut unterhaltendes Rollenspiel mit einem unspektakulären, aber soliden Action-Part – vor allem, wenn man sich zumindest ein wenig Menschenblut gönnt. Die Präsentation ist durchwegs gelungen; grafisch weiß das nächtliche London durchaus zu überzeugen; auch wenn manche Animationen und Gesichter ein wenig steif wirken, kann sich die Leistung des verhältnismäßig kleinen Entwicklerstudios durchaus sehen lassen.

Auch die komplexe und düstere Geschichte, mit ihren interessanten Charakteren und auch moralischen Fragen, ist unterhaltsam; wenn, ja wenn nicht einzelne Momente diese sorgsam aufgebaute Narration fast mutwillig sabotieren würden. "Vampyr" wäre eigentlich prädestiniert dafür gewesen, das von derselben Mischung lebende "Vampire the Masquerade: Bloodlines" nach unfassbar langen 14 Jahren vom Vampirrollenspiel-Thron zu stoßen; sein mittelmäßiger Actionpart, die nur halbherzig umgesetzte Gut-/Böse-Mechanik und vor allem eben diese narrativen Aussetzer lassen es aber letztlich daran scheitern.

Ein Trost: Auch "Bloodlines" war bei Release noch nicht das Spiel, das sich viele erhofft hatten; es besteht Hoffnung, dass der eine oder andere Kritikpunkt durch nachgereichte Änderungen noch zu relativieren ist – und auch technisch bleiben einige Stotterer zu präparieren. So, wie es jetzt ist, ist "Vampyr" solide – es bleibt aber leider nur das zweitbeste Vampirrollenspiel. (Rainer Sigl, 10.06.2018)