"Bringen Sie das zusammen?": Mit diesem Plakatspruch warb die Stadt Wien um Pflegeeltern. Plätze werden laufend gesucht. Als schwer vermittelbar gelten schon Dreijährige.

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Milo* hatte schon als Säugling Angst vor Nähe. Seine Mutter konnte nicht angemessen für ihn sorgen, weil sie selbst in einer Notlage war. Sie lebte in einer Gewaltbeziehung und wollte sich das Leben nehmen. Die ersten Wochen nach der Geburt verbrachte Milo auf der Intensivstation. Dann kümmerte sich eine Krisenmutter um ihn, während die Wiener Kinder- und Jugendhilfe nach einem Platz in einer Pflegefamilie suchte. Als er mit vier Monaten zu seinen Pflegeeltern kam, hatte er bereits mehrere Trennungen, nach ohnehin kurzen Beziehungen, hinter sich.

"Die Vorstellung, dass so ein kleines Kind schon so viel Schmerz erlebt hat, ist schlimm", sagt Anna*. Sie ist froh, dass der mittlerweile siebenjährige Milo zu ihnen gefunden hat. Durch einen Zufall kamen sie und ihr Partner in Kontakt mit Pflegefamilien. Zwar war es für sie biologisch möglich, schwanger zu werden, doch die Tatsache, dass es in Wien so viele Kinder gibt, die keinen Platz bei Pflegeeltern finden, hatte das Paar dazu bewogen, sich bei der Kinder- und Jugendhilfe zu melden. "Nach vier Jahren ist etwas gut geworden, da ging Milos Angst weg, und er konnte mir in die Augen schauen", erzählt sie.

"Verwahrlosung vererbt sich"

Das Wiener Jugendamt (MA 11) sucht laufend Pflegeeltern. Ab drei Jahren wird es für Kinder schwierig, einen Platz in der Langzeitpflege bei Familien zu finden, sagt Martina Reichl-Rossbacher. Sie ist Leiterin des Wiener Referats für Adoptiv- und Pflegekinder (RAP). Geschwisterkinder, Kinder, die in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind, und Kinder mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus sind besonders schwer zu vermitteln, erzählt sie. Wird ein Kind aus seiner Ursprungsfamilie herausgenommen, hat es zuvor meist Gewalt und Vernachlässigung erlebt. Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit der Mutter sowie psychische Krankheiten sind häufige Gründe, weshalb das Jugendamt interveniert. "Verwahrlosung vererbt sich" , sagt Reichl-Rossbacher. Auf der einen Seite stehen die Familien, die sich in einer Notsituation befinden und nicht ausreichend für ihre Kinder sorgen können. Auf der anderen Seite sind jene Familien, die selbst gute Voraussetzungen vorgefunden haben und anderen Kindern eine Chance geben wollen. Und dazwischen die Kinder, die dringend jemanden brauchen, der sich liebevoll um sie kümmert.

Luisa* und Marius* sind fünf und sieben Jahre alt. Ihre leiblichen Mütter sind beide drogenabhängig. Die Kinder waren nur wenige Wochen alt, als sie im Krankenhaus einen Entzug machten. Ihre Pflegeeltern standen ihnen zur Seite. "Die Anfangszeit war hart", erinnert sich Katharina*. Sie und ihr Partner haben sich nach vier IVF-Versuchen für das Modell der Pflegefamilie entschieden. Die Vorbereitungskurse für werdende Pflegeeltern beschreibt Katharina als vorausschauend und vielseitig. Unterstützung bekomme man in Form von Supervision und Therapie. Dazu gibt es 16-mal im Jahr Pflegekindergeld von 500 bis 575 Euro. Wie viel die Kinder über ihre Geschichte wissen? Das passiere häppchenweise, sagt Katharina: "Sie fragen, wir antworten."

Ähnlich praktizieren das auch Michael* und sein Partner. Körperliche Gewalt und Suizidversuche während der Schwangerschaft führten im Fall ihrer Pflegekinder Marco* und Yvonne* dazu, dass sie der Mutter abgenommen wurden. Einmal im Monat gibt es Besuchskontakt. Anders als bei der Adoption behalten in der Langzeitpflege die leiblichen Eltern bestimmte Rechte, etwa das Besuchsrecht. Dass Marco und Yvonne zu ihrer Mutter zurückkämen, fürchten die beiden Väter nicht. Zu groß war die Vernachlässigung der Kleinen, zu stark die emotionale Bindung in der derzeitigen Familienkonstellation. Die tatsächliche Rückführungsquote sei auch eher gering. Als Michael vor acht Jahren Pflegevater wurde, gab es – anders als heute – noch keinen Rechtsanspruch auf Karenz für Pflegeeltern. Er kündigte seine Arbeit und ließ sich über die MA 11 anstellen, eine Variante, die Pflegeeltern offensteht, um in dieser Zeit sozialversichert zu sein. Dass das Pflegeelternmodell dennoch wenig populär ist und viele lieber adoptieren möchten, kann er nicht nachvollziehen.

Regelmäßige Kritik am Jugendamt

Die Wertschätzung gegenüber dem Jugendamt teilen freilich nicht alle. Mehr als 90 Prozent der Kinder werden gegen den Willen der leiblichen Eltern abgenommen. Der MA 11 wird in regelmäßigen Abständen vorgeworfen, zu langsam oder zu schnell zu agieren, sagt Reichl-Rossbacher. Eine Kindesabnahme ist die drastischste Maßnahme, die dem Jugendamt zur Verfügung steht. Sie darf nur dann eingeleitet werden, wenn Gefahr im Verzug ist. Und: Es gelte das gelindeste Mittel zu wählen, sagt die Leiterin des RAP. Als ersten Schritt setze man auf Krisenunterbringung. Innerhalb von acht Wochen müsse geklärt werden, ob das Kind in die Familie zurückkomme. In Österreich leben laut Daten der Statistik Austria 5223 Kinder in Pflegefamilien, 8423 Kinder in Pflegeeinrichtungen.

"Pflegeeltern müssen mehr können als leibliche Eltern", sagt Monika Steiner und meint damit die weltoffene Haltung und Toleranz, die Pflegeeltern gegenüber der Herkunftsfamilie aufbringen müssen. Steiner ist Sozialarbeiterin und für das Fortbildungsprogramm der MA 11 verantwortlich. Das Überprüfungsverfahren für angehende Pflegeeltern dauert bis zu einem Dreivierteljahr. Danach werden gemeinsam die Auswahlkriterien festgelegt. Ein Moment, den viele als unangenehm empfinden: Würde man ein Kind mit Entwicklungsstörungen nehmen? Nimmt man auch ein Kind ohne EU-Pass auf? Katharina und Anna haben beide Kinder, die über keine Reisedokumente verfügen. Das bedeutet im Alltag, dass sie sich als Familie nur innerhalb Österreichs bewegen dürfen. Solange der Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist – und das kann Jahre dauern -, besteht zudem die Gefahr einer Abschiebung des Kindes. Hier fühlen sie sich vom Jugendamt alleingelassen. "Es ist skandalös, dass es im österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht keine besseren Regelungen für Pflegekinder gibt", sagt Anna. Eine Kritik, die auch Reichl-Rossbacher als gerechtfertigt sieht. Die ungeklärte Staatsbürgerschaftsfrage sei ein besonders schwieriges Kapitel. "Wir arbeiten daran", sagt sie. Ob die Eltern angesichts dieser Herausforderungen ihre Entscheidung jemals bereut hätten? Michaels Antwort: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein leibliches Kind mehr lieben kann."

*Name von der Redaktion geändert.

(Christine Tragler, 8.6.2018)