Das Marseille International Fashion Center hat sich zu einem Umschlagplatz für Textilien aus Fernost entwickelt. Knapp 100 Läden haben bereits geöffnet, viele weitere sollen folgen.

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Noch flattern die roten Lampions in der frischen Brise über dem Hafengelände von Marseille: Überbleibsel von der Feier, bei der Bürgermeister Jean-Claude Gaudin das Marseille International Fashion Center (MIF) einweihte. Es gab Champagner und Maotai-Schnaps, und die vielen Gäste aus Peking nannten das neue Umschlagzentrum überschwänglich "MIF 68", indem sie die chinesische Glückszahl 68 anfügten.

Knapp hundert Läden haben bereits geöffnet, 200 weitere sind geplant. Sie haben alle die Form von Transportcontainern, das erleichtert das Aus- und Umladen. "Es wird die größte Anlage dieser Art in Europa", meint mit sichtlichem Stolz der MIF-Vorsteher Dingguo Chen, dessen Französisch ebenfalls Fortschritte macht.

Die meisten der vorerst hundert Metallbehälter auf dem 17 Hektar großen Gelände sind an chinesische Kleiderhändler vermietet. Gaudin freute sich bei der Einweihung über die schon 250 lokalen Arbeitsplätze und deren Grund: "Marseille wird eine privilegierte Etappe der neuen Seidenstraße."

Das Reich der Mitte produziert schließlich nicht nur Textilien, sondern zahllose Konsumgüter des Westens. Im MIF hat sich bereits ein chinesischer Exporteur von LED-Bildschirmen eingemietet. Und Cosco Shipping, die größte chinesische Frachtreederei mit mehr als hundert Containerschiffen, hat Marseille im Frühjahr zu ihrem mediterranen Hub erklärt; Barcelona unterlag nach einem längeren Benchmarking.

Strategisch günstige Lage

Warum Marseille? Ein Blick auf die Weltkarte gibt Antwort. Die Provence-Metropole, berühmt für ihr Bouillabaisse-Gericht und den Fußballer Zinédine Zidane, liegt strategisch günstig am ausfasernden Ende der neuen Seidenstraße, die Peking seit fünf Jahren und mit einem Fonds von 40 Milliarden Dollar bis nach Europa aufbaut.

Der lokale Immobilienexperte und MIF-Mitbegründer Gurvan Lemée schildert, wie die neue Seidenstraße konkret funktioniert: "Vom Hafen Dalian in Nordchina gelangen die Güter via Suezkanal nach Marseille. Im Hafengelände werden sie zollfrei eingelagert. Die Händler stellen die wichtigsten Muster im MIF aus und verkaufen sie dort an Grossisten. Diese vertreiben ihre Ware dann per Eisenbahn und Autobahn nach Süd- und Westeuropa. Ein Drittel geht über das Mittelmeer nach Tanger, Algier oder Tunis."

Die chinesischen Händler denken in Frachtschiffvolumen. Und zwar auch für die Rückreise. So war es auch früher, als die Kamelkarawanen Seide, Porzellan und Tee Richtung Westen transportierten und Gewürze, Arzneien oder Erfindungen zurückbrachten. Deshalb wollen die Chinesen in Marseille sogar Fabriken ansiedeln, die Güter für die Rückreise stellen. Das Industrieunternehmen Quechen Silicon Chemical hat unlängst angekündigt, es werde seine erste europäische Reifenfabrik mit 130 Arbeitern in Marseille eröffnen.

Keine Einbahnstraße

Die Seidenstraße soll keine Einbahnstraße werden, meint Monsieur Chen. "Ein Kleid mit dem Etikett 'Made in France' gilt in Schanghai oder Shenzhen als Luxus", klärt er auf. "Und Provence-Gewürze sind dort so gefragt wie französische Weine."

In den letzten Jahren haben Chinesen hektarweise Weingüter im Bordeaux-Gebiet erworben. Nun beginnen sie, Agrarland aufzukaufen. Im fruchtbaren Indre-Tal in Zentralfrankreich hat ein Industriekonzern aus Hongkong 2016 auf einen Schlag 1700 Hektar Nutzland erworben; in diesem Frühling kaufte ein anderer Staatsbetrieb 900 Hektar im Allier-Gebiet. Junge Bauern aus der Umgebung warfen die Chinesen aus dem Rennen, indem sie das Doppelte des Marktpreises zahlten. Der Investor Keqin Hu erklärte, er wolle in China Luxusbäckereien à la parisienne schaffen und somit "französischen Weizen auf chinesische Teller bringen".

Kontrolle über alles

Die gleiche Wirtschaftsstrategie verfolgt die Staatsführung in Peking: Sie will den Warenfluss der Seidenstraße kontrollieren, ohne von französischen Bauern oder anderen Produzenten abhängig zu sein. Denn China stellt 20 Prozent der Weltbevölkerung, verfügt aber nur über zehn Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche.

Langsam fügen sich die Mosaiksteinchen zu einem Puzzle namens "One Belt, One Road" ("Ein Gürtel, eine Straße"), wie die Chinesen ihr globales Projekt einer neuen Seidenstraße nennen. Die Europäer steuern ihrerseits nur einzelne Steinchen bei und gehen auch nicht geeint vor.

Marseille etwa hat das MIF ohne Rücksicht auf das landesweit führende Textilzentrum in Paris-Aubervilliers aufgebaut. So wie sich die beiden französischen Großstädte konkurrenzieren, versucht jeder europäische Hafen, jedes EU-Land für sich an die Seidenstraße anzudocken.

Unbeantwortet muss damit die Frage bleiben, ob die Rechnung für Frankreich oder Europa insgesamt aufgeht. Entstehen unter dem Strich Aufträge und Arbeitsplätze – oder verlagern sie sich doch eher nach China? Respektieren die chinesischen Investoren gewachsene Strukturen hierzulande?

Lemée schüttelt ob solcher Fragen den Kopf: "Seit Jahren höre ich Klagen über die bevorstehende 'Invasion' der Chinesen und die 'gelbe Gefahr'. Wir täten besser daran, vom Geschäftssinn, den unsere Freunde im MIF an den Tag legen, etwas zu lernen." (Stefan Brändle aus Marseille, 8.6.2018)