Die Autorin hat die Erfahrung gemacht: Je länger man auf einem Maturatreffen bleibt, desto mehr erfährt man.

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Am Ende ist alles wie damals. Aus den Boxen hämmert "oh yeah yeah yeah, oh yeah yeah" von The Offspring, die Bierflaschen wandern im Minutentakt über die Theke. Trunkenes Tanzen zwischen Bar und Stehtisch. Christian, Michael, Claudia und Andrea hängen sich in den Armen, die Augen auf Halbmast. Irgendwann ruht Jens Kopf auf der Tischplatte. Neben ihm ein Stapel Abi-Zeitschriften, Briefumschläge mit Klassenfotos (Toskana, 1995), Jahrgangsbücher.

3:30 Uhr – Zeit, den Absprung zu schaffen, Anruf beim Taxiunternehmen "Blue Tiger", zum Landgasthof bitte, sofort. Zehn Minuten später sitze ich vorne neben dem Taxler, Alex, Frank, Jan hängen in den Autogurten auf der Rückbank. Dem einen liegt das Kinn auf der Brust, den anderen fällt das Reden schwer. Zwanzig Minuten geht es so durch die Nacht. Drei Dörfer später erster Stopp vor der Haustür der Eltern, 27 Euro macht das. Beiläufige Verabschiedung der drei aus dem Auto heraus, ein schlappes Winken: "Schö-ön wars".

So viel Eintracht war nicht vorhersehbar. Erstes Zusammentreffen, zwanzig Jahre nach dem Abitur: Schon auf der Fahrt ins Saarland, das 2569,69 Quadratkilometer kleine Bundesland, das ungefähr auf der Höhe von Luxemburg an der westdeutschen Grenze klebt, tun sich Fragen auf. Werde ich sie wiedererkennen? Wird das eine traurige Versammlung von Glatzen und Bierbäuchen? Drehen sich die Gespräche um Kinder, Karriere, SUVs? Oder etwa schon um Scheidungen und Alimente? Sind die begehrten Mädchen von damals noch immer die schönsten? Und natürlich: Was blieb übrig von diesem Abiturjahrgang 1998, der mit einem Stoßseufzer die Schule verließ? Der Name des Blockbusters Independence Day landete damals auf dem Titel der Abschlusszeitung, als Jahrgangsmotto hängte man sich den Rover-Werbespruch a class of its own um. So fühlte sich damals in der westdeutschen Provinz Humor an, es war die große Zeit von Guildo Horn und Stefan Raab.

Whatsapp-Vorbereitungen

In den Monaten vor dem Treffen geht es in der Whatsapp-Gruppe aber erst einmal um praktische Dinge. Absagen aus London und Groningen treffen ein, Termine werden hin- und hergeschoben, Treffpunkte diskutiert und über eine Trauerfeier nachgedacht: Wie gehen wir damit um, dass fünf ehemalige Mitschüler nicht mehr leben? Berufsschullehrer Peter nimmt die Organisation in die Hand. Das Abitreffen (das vierte seither) soll diesmal in einem Landgasthof stattfinden, auf der Karte stehen überbackener Schafskäse und Rumpsteak. Es geht hier ja nicht ums Essen sondern um, genau, das Wiedersehen.Am frühen Abend betreten die Gesichter von damals den Partyraum des Gasthofs, saarländischer Singsang füllt den Raum: "Du haschd dich awwa gar net verännert!" Das stimmt, auf den ersten Blick sehen erstaunlich viele so wie damals aus. Martina, heute Schulleiterin in Rheinland-Pfalz, lacht noch genauso breit wie als Abiturientin, Michael mit dem ausrasierten Nacken wirkt, als würde er seine Abende noch immer am Fußballplatz verbringen. Glatzen, Bäuche, graue Haare: Auch im Raum, allerdings noch in der Minderheit.

Die Scheu ist trotzdem greifbar. Erste Runde Johannisbeersaft, Weißwein, Bier, es folgt ein unverfängliches Frage- und Antwortspiel: Kinder? (nein) Job? (ja) Und dann natürlich: Du in Wien? Zur Sissi-Kaffeehaus-Donau-Metropole haben fast alle was zu sagen. Die Assoziationen? Ziemlich deutsch, diese Bissigkeit kann ich mir nach zehn Jahren in Wien nicht verkneifen. Musiklehrer Heiko zum Beispiel, früher der Orgelfreak in Birkenstock-Sandalen, erzählt von seinen Ausflügen in die wun-der-schö-ne österreichische Metropole. Schon zweimal war er mit seinen Musik-Leistungskursen in Wien zu Besuch: "Konzerthaus, Oper, und erst die Buchteln im Hawelka, so eine schöne Stadt!" Seine Schwärmerei mag (typisch deutsch!) gar kein Ende nehmen.

Versprengtes Nebeneinander

Heiko steht mit seiner Begeisterung nicht alleine da, im Lauf des Abends erfahre ich: Irgendwann war jeder schon mal da. Nur getroffen habe ich in den letzten Jahrzehnten kaum einen von ihnen. Über Freundschaftsanfragen auf Facebook und eine Handvoll Instagram-Followerschaften gingen die meisten Beziehungen nicht hinaus.Warum auch? Dieser Abiturjahrgang 1998 war ein versprengter Haufen aus Grüppchen und Einzelkämpfern. Zu Beginn des Studiums im grün-alternativen Marburg hätte ich die Augen verdreht: Ein Haufen voll von Normalos, schlimmer geht‘s nicht! Neun gemeinsame Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.

An diesem Juni-Abend ist jene vergessen geglaubte Ambivalenz schnell wieder da, auch wenn von den 57 Abgängern nur 33 gekommen sind. In Windeseile finden die alten Seilschaften zueinander. So wie die Schönheiten des Abi-Jahrgans: Andrea, heute Controllerin mit Cabrio, teilt sich mit Katja, Ärztin in Frankfurt, und Claudia, Polizistin im Bereitschaftsdienst, ein Tischende. Sie haben über die Jahre Kontakt gehalten, oft sitzen Claudia und Andrea zu Hause im Saarland im Garten zusammen, trinken Latte Macchiato, die Kinder um die Füße.

Interessant wird es erst einige Offspring-Hits später, und das wie nebenbei: Jens, früher ein mittelmäßiger Schüler, entpuppt sich als karrierebewusster Motorradfreak, Martina ist nicht die einzige, die ohne Kinder ganz zufrieden ausschaut. Tim, der in Luxemburg gutes Geld verdient, war schon so oft in Las Vegas, dass er längst vergessen hat, die Flüge zu zählen. Zahnärztin Britta erzählt irgendwann um zwei in der Früh in einem Nebensatz von ihrer Freundinund deren Kindern. Sie hätte sich gerne länger unterhalten, müsse jetzt aber weg. Wie gut, dass es die Whatsapp-Gruppe gibt. Da ist seither keiner ausgetreten. (Anne Feldkamp, 9.6.2018)