Plakatkunst: Es gibt genug Gründe, die politischen Rahmenbedingungen der WM sehr kritisch zu sehen und das Turnier sogar abzulehnen.

Foto: Yermolenko

Im April 2014 veranstaltete ich mit einem Freund ein erstes Seminar zur "Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft". Sportjournalisten und Fans aus Belarus, Russland und der Ukraine wollten wir anhand der engagierten Fankultur zeigen, wie die offene Zivilgesellschaft mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Problemen funktioniert. Wie Fans sich gegen Rassismus und Homophobie einsetzen, sich aber auch im Zeichen der eigenen Rechte und Interessen gegenüber Vereinen, Verbänden und staatlichen Institutionen organisieren.

Vor diesem ersten Seminar hatten wir etwas Muffensausen. Denn im März 2014 hatte Putins Regierung die Krim annektiert, nachdem die Euromaidan-Proteste in der Ukraine bereits über 100 Tote zu beklagen hatte. In der Ostukraine begannen die ersten Unruhen, die später zu einem Krieg führten, der bis heute 10.000 Tote gefordert hat. Der Konflikt hatte damals auch die sozialen Medien bei uns erreicht. In den Kommentarspalten wurde erbittert um die Deutungshoheit der Vorgänge in Osteuropa gekämpft.

Verbrannter Politikbegriff

Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit Osteuropa, habe in Russland studiert und als Journalist über Belarus und auch über die Ukraine geschrieben. Ich war zutiefst schockiert von den Ereignissen. Niemand, der Osteuropa kennt, hätte solch eine Eskalation für möglich gehalten. Die Idee für unsere Seminare war vor den Euromaidan-Protesten entstanden. Wir hielten Fußball für eine gute Idee, um junge Leute aus den osteuropäischen Nachbarländern zusammenzubringen. Weil sie häufig selbst sehr wenig voneinander wissen, von der unterschiedlichen komplexen Kultur und Geschichte, die sie trotz ihrer sprachlichen und historischen Gemeinsamkeiten haben.

Zudem ist der Begriff der Politik, der für uns selbstverständlich ist, zumindest in Belarus und in Russland ein verbrannter. Unter den Präsidenten Lukaschenka bzw. Putin bringt jegliche zivilgesellschaftliche und politische Aktivität Probleme mit sich: Man wird auf Demonstrationen verhaftet, muss mit empfindlichen Geldstrafen rechnen, die NGO, für die man aktiv ist, landet auf der Liste ausländischer Agenten, man wird von den Geheimdiensten gegängelt, nicht selten wird man unter fingierten Vorwürfen zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

Yermolenko

Partizipation und Mitbestimmung

Zudem muss man die Anfeindungen der eigenen Leute aushalten, die die autokratische Politik ihrer Präsidenten für rechtens halten. Die wenigsten entscheiden sich für ein solches Engagement. Und die wenigsten bleiben lange aktiv, weil sie den ständigen Druck und die Repressionen nicht mehr aushalten, weil sie irgendwann eine Familie haben, die ernährt werden muss. Unsere Seminarteilnehmer kommen fast alle aus der Welt außerhalb des zivilgesellschaftlichen Diskurses in ihren Ländern. Dass Fußball viel mehr ist als das Spiel auf dem Platz, erfahren viele von ihnen während der Woche in Berlin zum ersten Mal. In Osteuropa wird der Fußball von autoritären Strukturen bestimmt. Werte wie Partizipation und Mitbestimmung werden weder von staatlichen Strukturen noch von Vereinen oder Verbänden belohnt, sondern eher bekämpft – was es auch schwierig macht, Probleme wie Rechtsextremismus und Rassismus in den Kurven in den Griff zu bekommen.

Nur die Ukrainer haben mit der Orangen Revolution von 2004 begonnen, sich aus den autoritären Strukturen des Postsowjetismus zu verabschieden. Diejenigen in der Region, die sich trotz aller pessimistischen Wahrsagereien für demokratische Freiheiten einsetzen, hoffen, dass die Ukrainer erfolgreich sein werden. Übrigens waren es Fußballfans (rechte und linke), die sich in der Ukraine in den politischen Wandel (wie vorher auch in Ägypten oder der Türkei) eingemischt haben, um die Euromaidan-Demonstranten vor den Schlägertrupps Janukowitschs zu beschützen. Später sind sie in den Krieg gezogen. Seitdem hat auch die belarussische Regierung begonnen, Fußballfans ins Visier zu nehmen und sie mit drakonischen Strafen zu überziehen. Die Angst vor der Kraft der Selbstorganisation der Fans, die außerhalb der staatlichen Kontrollmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Aktivisten stattfindet, ist groß.

Würde die Situation eskalieren?

Auch in Osteuropa schlagen sich gesellschaftspolitische Entwicklungen also im Fußball nieder. Wie also würden sich junge Ukrainer und Russen in dieser emotional aufgeladenen Situation bei unserem Seminar begegnen? Würde die Situation eskalieren? Seit dieser Zeit haben wir zahlreiche solcher Seminare organisiert. Es hat auch immer wieder hitzige Diskussionen gegeben. Aber niemals hat der Konflikt die Gruppe gespalten. Von allen Teilnehmern wird es als Chance beschrieben, dass sich Ukrainer, Russen und auch Belarussen treffen können, um abseits von Propaganda und Repression miteinander über ihre politischen Probleme und etwaigen kulturellen Missverständnisse zu sprechen. Den Raum, der das möglich macht, bietet der Fußball.

Nun findet also die Weltmeisterschaft in Russland statt. Seit der WM 1978 in Argentinien, wo zu jener Zeit das blutrünstige Regime des Junta-Chefs Videla herrschte, ist es zweifelsohne die umstrittenste Fußball-Weltmeisterschaft (auch wenn man das damalige Argentinien und das heutige Russland nicht miteinander vergleichen sollte). Die Gründe dafür sind bekannt: die aggressive Außenpolitik der Regierung Putins, die auch zum Abschuss der Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine mit 283 Toten führte, das harte Vorgehen gegen politische Gegner, Kritiker und zivilgesellschaftliche Organisationen und die Diskriminierung von Minderheiten im eigenen Land, der Einsatz von nordkoreanischen Arbeitssklaven und die generelle Ausbeutung von Arbeitern beim Bau der WM-Stadien. Aktuell sitzen rund 70 politische Gefangene aus der Ukraine in russischen Gefängnissen. Einer von ihnen, der Regisseur Oleh Senzow, ist in einen Hungerstreik getreten, und er ist bereit zu sterben. In Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, schlägt die ägyptische Nationalmannschaft ihr Lager auf – in einem Land, in dem Präsident Kadyrow Schwule "Teufel" nennt.

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Die WM bietet aber auch einen Raum

Man kann all dies und noch viel mehr in einem Bericht der Organisation Human Rights Watch nachlesen. Putin wird die Fußball-Weltmeisterschaft nutzen, um sich im Glanz großer Fußballernamen zu sonnen und um die eigene Bevölkerung hinter sich zu scharen. Nach einem ausgelassenen Fußballfest ist wohl niemandem zumute, der nicht schon völlig abgestumpft ist. Es gibt genügend Gründe, die politischen Rahmenbedingungen der WM äußerst kritisch zu sehen und das Turnier sogar abzulehnen. Dazu gehört auch, dass man die Organisation, die solch ein Turnier an autokratische Staaten vergibt – die Fifa – und die selbst bereit ist, aus Gier nach Geld und Macht beim Thema Grund- und Menschenrechte die Augen zu verschließen, in seine Kritik einschließt.

Vielfach wurde deshalb der Ruf nach einem Boykott der WM laut. Jeder Einzelne kann sich natürlich überlegen, ob er als Zeichen eines persönlichen Protests seinen Fernseher auslässt. Auch Regierungen können entscheiden, keine hochrangigen Politiker zum Turnier zu entsenden. Aber ein offizieller Boykott – vom wem auch immer der ausgesprochen und durchgesetzt werden sollte – würde nichts bringen. Aber: Die WM bietet den Raum, Missstände und Probleme deutlich anzusprechen und zu diskutieren. Viele russische Aktivisten nutzen diese Zeit, um ihre eigene Stellung zumindest kurzfristig zu verbessern. Die Diskussion, wie und ob Sportgroßveranstaltungen künftig organisiert werden könnten, damit sie demokratischen Standards entsprechen, ist ohnehin viel langwieriger.

Austausch für fünf Wochen

Eine WM, bei der wir unbedarft den Fußball feiern können, wird dies also mitnichten. Auch ich fahre mit einem ambivalenten Gefühl zum Turnier. Dennoch freue ich mich darauf, meine russischen Freunde wiederzusehen. Denn trotz der problematischen Rahmenbedingungen, in denen der Fußball mittlerweile organisiert wird, hat das Spiel nach wie vor die Kraft, Menschen zusammenzubringen, die sich sonst niemals begegnen würden. Die wenigsten in Russland sind viel gereist. Und einer Umfrage des renommierten Levada-Zentrums von Anfang Mai zufolge haben 56 Prozent der Befragten das Gefühl, dass Russland sich in einer internationalen Isolierung befindet, was die Meinungsforscher als historische Höchstmarke angeben.

Ein Boykott würde nicht nur diese Selbstisolierung zementieren. Er würde auch das von Propaganda und Präsident forcierte Narrativ von der feindlichen Umzingelung Russlands konsolidieren. Nun aber kommen Fans aus 31 Nationen in ihr Land, reisen mit Zügen, fahren mit Taxis, kaufen ein, essen in Restaurants, trinken in Bars. Auch wenn dieser Austausch nur rund fünf Wochen andauern wird, er wird das Leben zum Positiven verändern. Und auch darauf kommt es an. (Ingo Petz, 10.6.2018)