Selten ist es so ruhig vor dem Mozart-Haus: Meist versammeln sich Trauben von Touristen vor dem einstigen Wohnhaus des Komponisten.

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Es ist erstaunlich, wie zäh, träge und herdengleich viele Touristen in gallertartigen Gruppen über den Graben mäandern und einem so manche Besorgung vergällen.

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Touristentraube vor der Ankeruhr: Die Bewohner des Ersten treffen täglich auf 250.000 Menschen im Stadtkern. Davon sind rund 100.000 hier beschäftigt, 125.000 zählen die Touristen, für die es im 1. Bezirk 11.680 Betten gibt.

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Mozart, Klimt, Schiele und Sisi, sind hier präsenter als zu ihren Lebzeiten.

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Was kann man den Anrainern raten? Wege durchs Gasserlwerk zu finden, das besonders während der späten Stunden zeigt, welch wunderbarer Fleck das Stadtzentrum noch immer ist.

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"Früher konnte man im Ersten noch in Ruhe bummeln": So mancher vermisst die "guten alten Zeiten".

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Goldenes Quartier: Stülpte man eine Glaskuppel über das Zentrum der Wiener Innenstadt, hätte man es mit einem gigantischen Einkaufszentrum zu tun.

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Die Domgasse ist eine besondere alte "Dame" im Reigen der Wiener Innenstadtgassen. Mozart ging hier mit seinem Hund Gassi. Er nannte ihn "Gauckerl". Heute versammeln sich Trauben von Touristen vor dem einstigen Wohnhaus des Komponisten. Mit ein bisschen Glück ist das Summen der Kleinen Nachtmusik zu hören. Hat man Pech, vergeht sich einer an der Arie der "Königin der Nacht" und klingt dabei wie eine pubertierende Saatkrähe mit Rachenkatarrh.

Zwei Gassen weiter schlängeln sich Fremde aus aller Welt in einer Zweierreihe vor einer Art Schnitzelfabrik. Man könnte meinen, es gäbe weit und breit kein anderes Wirtshaus, in dem geklopft und paniert wird. Die Schlange gehört zum Innenstadtbild wie die Fiaker zum Dom, die Touristen, die fünf Euro bezahlen, um sich die 343 Stufen des Steffls hinaufzudrängeln, oder die lästigen Keiler für fragwürdige Mozart-Konzerte, deren Köpfe unter weißen Perücken stecken.

Käme Mozart heute am Haas-Haus vorbei, müsste man ihn spätestens an der Ecke mit den drei Souvenirshops an die Hand nehmen. Zurzeit gibt's hier übrigens die Sängerknaben-Kugeln in einer Limited Edition um 3,99 Euro für 15 Kugeln. Eine deutsche Touristin mault über "Schweinepreise".

Geschickt Haken schlagen

"Japanerslalom" nennt manch Einheimischer die empfohlene Fortbewegungsart an diesem Ort. Dabei geht es darum, geschickt Haken schlagend die Touristenhorden zu umschiffen. Es ist erstaunlich, wie zäh, träge und herdengleich viele Touristen in gallertartigen Gruppen über den Graben mäandern und einem so manche Besorgung vergällen. Dass die Mehrheit der Augenpaare nicht auf der Pestsäule, sondern auf dem Smartphone pickt, macht die Ausweichmanöver in diesem dreidimensionalen Wimmelbuch nicht leichter. Was wurde eigentlich aus dem guten alten Individualreisenden?

Freda Meissner-Blau, mittlerweile verstorbene Gründerin der Grünen-Partei, die nicht weit von hier wohnte, sagte einmal: "Manchmal hab ich das Gefühl, man muss sich durch die Innenstadt durchkämpfen. Darum gehe ich meistens durch das kleine Gasserlwerk, um dem Rummel auszuweichen." Verwunderlich ist, neben den Menschenströmen, wie rasant es so weit gekommen ist. Inzwischen ist im Zusammenhang mit diesem Wiener City-Rummelplatz immer öfter von einer "Venedigisierung" zu hören.

Wie zur Vorweihnachtszeit

Was heute an einem Samstagnachmittag am Wiener Graben los ist, spielte sich noch vor zehn Jahren lediglich an einem Samstag vor Weihnachten ab. Mittlerweile scheint hier jeder Samstag ein Einkaufstag vor Weihnachten zu sein. Nur die Weihnachtsbeleuchtung fehlt – und die Christbäume. Was die deutsche Touristin wohl zu deren Preisen sagen würde?

August Ruhs, Psychiater und seit vielen Jahren Bewohner des 1. Bezirks, sagt: "Zum Leidwesen der meisten seiner Bewohner ist der Erste zu einem Tummelplatz von Spekulanten und Immobilienhaien heruntergekommen." Die ausgewogene Vielfalt eines attraktiven Wohn-, Geschäfts- und Administrationsviertels habe sich "mehr und mehr zugunsten der Monokultur Label-besessener Shopping-Malls mit Schnöselgastronomie und Schickeriahotellerie verflüchtigt".

Penthouse am Graben

Ein paar Zahlen gefällig? 1880 wohnten in der Innenstadt mehr als 70.000 Menschen. Per 1. Jänner 2017 zählte der 1. Bezirk noch 16.465 Einwohner. Zu ihnen gehören definitiv nicht nur – wie es das Klischee so gern sieht – Oligarchen, Schönheitschirurgen, Opernsängerinnen und Advokaten mit genagelten Schuhen. Es gibt, zumindest was Mieten betrifft, noch immer Wohnungen, die kostenmäßig dem Niveau von Bleiben in anderen Bezirken innerhalb des Gürtels entsprechen. Es muss ja nicht gleich ein Penthouse am Kohlmarkt oder Graben sein.

Die Bewohner des Ersten treffen täglich auf 250.000 Menschen im Stadtkern. Davon sind rund 100.000 hier beschäftigt, 125.000 zählen die Touristen, für die es im 1. Bezirk 11.680 Betten gibt. Der Rest ergibt sich aus Studierenden, Flaneuren etc. Den Tourismusverband, die Hoteliers, Wirte und Geschäftsleute freut das, no na!

Massen aus Osteuropa

Auch in der Trafik von Mojan Gonzi, gleich ums Eck vom Stephansplatz, geht es zu wie in einem Ameisenbau. Mehr als 400 Kunden zählt sie täglich in ihrem Geschäft, in dem sie seit 1982 arbeitet. Vor allem die Qualität des Tourismus habe sich in diesen 36 Jahren verändert. "Früher konnte man im Ersten noch in Ruhe bummeln. Die Touristen hatten mehr Stil. Und das Geschäft mit den Souvenirs ist bei mir so gut wie tot. Das macht man heute in der Kärntner Straße." Mittlerweile kämen vor allem Massen aus Osteuropa, die wenig Geld daließen.

Aber Gonzi sieht es gelassen: "Wien ist halt multikulti, und ich liebe den Kontakt zu Menschen, vor allem zu meinen Stammkunden." Was die Situation der Bewohner des 1. Bezirks betrifft, meint die Trafikantin: "Man kann nicht alle glücklich machen."

Gigantisches Einkaufszentrum

Stülpte man eine Glaskuppel über das Zentrum der Wiener Innenstadt, hätte man es mit einem gigantischen Einkaufszentrum zu tun. Die tragenden Wände bestehen zwar aus massivem, gewachsenem Baubestand, dennoch verkommt dieser immer mehr zur Kulisse einer Wuselbühne samt Schanigärten in Biergartendimension. Zeitungskioske weichen den ewig gleichen Souvenirbuden, immer mehr traditionelle Familienbetriebe und Händler für die Dinge des Alltags sperren zu. Im gesamten 1. Bezirk existiert überhaupt nur noch eine einzige klassische Fleischerei.

Dieses Bild zeigt sich auch in anderen Metropolen. Ein attraktiver Stadtkern wird zum Revier für globalisierte Marken, die sich die Mieten und Auflagen in Toplagen leisten können und sich am nach wie vor boomenden Städtetourismus laben. Stück für Stück, Geschäft für Geschäft wird so an der Identität des Stadtzentrums genagt. Damit und mit den Menschenschlangen werden sich auch die Bewohner arrangieren müssen.

Lieber in die Lobau

Eine weitere schlängelt sich vor den Eingangstoren eines Flagship-Stores im Goldenen Quartier, sozusagen die Superkonzentratmeile der Luxusmarken. Hier mault keiner über "Schweinepreise". Ob Mozart sich angestellt hätte, um ein paar Gulden für seine Constanze auf den Kopf zu hauen? Wäre er danach auf einen Hugo in den Bussi-Bussi-Schickeria-Gastgarten des Schwarzen Kameels gegangen? Wohl hätt' er ihn geschüttelt, den Kopf, genauso wie Klimt, Schiele und Sisi, die hier präsenter sind als zu ihren Lebzeiten.

Hanno Pöschl, Schauspieler, Wirt des Kleinen Cafés und seit mehr als 40 Jahren eine Art Franziskaner-Platz-Haudegen sieht die Sache so: "Ich habe den 1. Bezirk immer als einen der schönsten Orte überhaupt geschätzt. Auch die Eleganz, die ich als junger Mensch als interessant und sonderbar empfand, hat es mir seinerzeit angetan. Vieles hat sich mittlerweile sehr zum Negativen verändert. Wenn man allerdings Mozartkugeln liebt und sich die Fahrt ins Outlet in Parndorf ersparen will, ist der Erste noch immer ein idealer Ort." Pöschl zieht es mittlerweile vor, mehr Zeit in seinem Häuschen in der Lobau als in seiner Wohnung in der Innenstadt zu verbringen.

Bewohner stiften Identität

Bezirksvorsteher Markus Figl (ÖVP) spricht in seinem Büro in der Wipplingerstraße von einem wahnsinnig hohen Nutzungsdruck. "Die Interessen der Menschen im 1. Bezirk sind sehr unterschiedlich. Hier treffen Bewohner auf Geschäftsleute, Touristen, Theaterbesucher usw. Für fast jeden Quadratmeter gibt es ein Dutzend Ideen für Nutzungsmöglichkeiten."

Da gilt es Prioritäten zu setzen, und dabei möchte der Stadtpolitiker bei allen wirtschaftlichen und sonstigen Interessen auf die Einwohner Rücksicht nehmen. Denn sie sind es, die für Figl die Identität und Authentizität eines Stadtviertels ausmachen. "Wenn die Bewohner gehen, kommen die Probleme, denn die Einwohner sind es, die auf die Stadt achten." Was sich Figl für den Bezirk wünscht? "Dass wir an Einwohnern und Familien zulegen."

War's ein Spitz?

Was man diesen als Stadt-Slalom-Spezialist empfehlen kann? Wege durchs Gasserlwerk zu finden, das besonders während der späten Stunden zeigt, welch wunderbarer Fleck das Stadtzentrum noch immer ist. Untertags wird ihnen je nach Grätzl nicht viel anderes übrigbleiben, als sich im Hakenschlagen zu üben und das eine oder andere Auge zuzudrücken. Vor dem Mozart-Haus kann es auch ein Ohr sein.

Apropos: Die Rasse des "Gauckerls" geht aus den Briefen des Komponisten Mozart nicht hervor. Angeblich war der Spitz seinerzeit en vogue. Aber das ist eine andere Geschichte aus dem Ersten. (Michael Hausenblas, 10.6.2018)