Emmanuel Macron, Kämpfer für die europäische Idee.

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Charles de Gaulle während des Zweiten Weltkriegs.

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Er ist ein Genie, ein de Gaulle!" – dieser euphorische Kommentar eines österreichischen Freundes scheint typisch für die "Macronlatrie", die man auch im übrigen Europa beobachtet. Im französischen Präsidenten sehen seine Bewunderer den Einzigen, der bravourös liberale Werte verteidigt, während ein Viktor Orbán den Rückzug auf nationale Identität verkörpert. Wenn nun Italien seinerseits einen souveränistischen Kurs innerhalb einer EU anstrebt, deren kleinster gemeinsamer Nenner eine "Europäisierung der Ausländerfeindlichkeit" sein könnte (so der Politanalytiker Sylvain Kahn auf der Website "The Conversation"), wird Macron noch an Statur gewinnen.

Die Franzosen äußern sich weniger positiv. Ein Jahr nach Macrons Wahl finden 76 Prozent, dass seine Wirtschaftspolitik vor allem den Betuchten dient: Er sei nur der "Präsident der Reichen", so die linke Opposition. Anders als das Ausland sehen viele Franzosen nicht, welch "ein Glück" sie mit diesem Staatsoberhaupt haben: Er ist jung, gescheit, kultiviert, energiegeladen, vif genug, um Donald Trump vor dem Kongress herauszufordern und dann mit ihm in Washington demonstrativ zu schmusen.

Macron ist nicht de Gaulle. Er ist ein Kind der liberalen Demokratie, obwohl er an der "Vertikalität" der Macht glaubt und alle "Kleinbürger" verpönt, die sich wie eine "Hausverwaltung" benehmen und sich an einem "sozialen Modell" festklammern, das in seinen Augen passé ist. Aber während de Gaulle hin und wieder ein "erschreckendes Schweigen" als Strategie angewandte (um die Regierten im Zweifel, ja sogar in Verzweiflung zu halten), scheut sich der moderne Kommunikator Macron nie, selbst in die Arena zu steigen, um dem Volk seine Ziele zu erklären und Kontrahenten frontal zu bekämpfen – wenn auch höflich. Er ist mehr Cyrano als ein Komtur.

Zum Glück ist er nicht de Gaulle, denkt man sich nach der Lektüre des dritten Bandes der Memoiren des Gaullisten Alain Peyrefitte, "C'était de Gaulle" ("Das war de Gaulle"). Das dicke Buch erzählt die turbulenten Ereignisse vom Mai 68: die Krise, wie sie vom innersten Kreis der Macht erlebt wurde, nicht auf den Barrikaden, sondern hinter den gepolsterten Türen der Ministerialbüros. Peyrefitte war damals für "L'education nationale" zuständig, das riesige öffentliche Ausbildungssystem, Universitäten eingeschlossen. Seiner Ehrfurcht vor dem "großen Mann" der Résistance verdanken wir diese Notizen.

Waffen gegen Aufständische

Am 5. Mai, nachdem die Pariser Polizei kläglich gescheitert war, die von Studenten besetzte Sorbonne zurückzuerobern, wollte de Gaulle schon höchste Gewalt anwenden: "Die Geschichte Frankreichs ist voll von Aufständen, die erst ein Ende gefunden haben, als dutzende Aufständische auf dem Pflaster geblieben sind", sagte er trocken im Ministerrat. Ab diesem Moment ist er überzeugt, dass "wir eine bewaffnete Organisation vor uns haben, dessen Ziel die Subversion ist".

Am 8. Mai, mit dem zunehmenden Studentenaufruhr konfrontiert, äußerte er sich martialisch: "Beim Beginn eines Aufstandes sollte man nicht versuchen, die Aufständischen zu beschwichtigen, sondern sie niederzumachen." Er will sich an die radikalen Methoden des Militärrechts halten: "Sie schießen in die Luft, einmal, zweimal, und falls es nicht genügt, schießen Sie in die Beine" – mit echten Kugeln. Am 11. Mai fragte der verfassungsberechtigte Chef der französischen Streitkräfte im Ernst: "Soll man die Armee holen?"

Der Rest ist Geschichte: Ende Mai fast sieben Millionen streikende Arbeiter und Beamte, das Regime vor dem Abgrund, die Linke auf dem Vormarsch. Dann Ende Juni bei vorgezogenen Parlamentswahlen ein rauschender Sieg der Gaullisten.

Zum Glück ist Macron kein de Gaulle, sagt unsere Vernunft. Leider ist er das nicht, meinen aber die Nostalgiker einer anderen Zeit, in der das gallische Land "groß und gefürchtet" war. Als Trump wieder Sanktionen gegen den Iran einsetzt, müssen Paris oder Berlin wohl klein beigeben, weil deren Wirtschaft zu sehr von US-Interessen abhängig ist.

Wie weit entfernt erscheint auch der von de Gaulle lancierte "Plan Calcul"! Der General stand an der Spitze einer großindustriellen Macht, die auf Flugzeugen (Concorde), Zügen (TGV) und Atomarem (Bombe und Kraftwerke) beruhte. Die von Macron angekündigten Investitionen des Staates im digitalen Sektor hingegen (1,6 Milliarden Euro pro Jahr) entsprechen rund einem Zehntel des jährlichen Budgets Forschung und Entwicklung von Alphabet/Google (16,6 Milliarden Dollar 2017) – von den Konkurrenten auf dem Weltmarkt ganz zu schweigen. Sogar im Verein mit der EU ist Frankreich nur eine mittlere Macht. Und die Zukunft unseres Planeten wird an den asiatischen und kalifornischen Ufern des Pazifiks entschieden.

Unbehagen wird wachsen

Die Demonstranten, die in Frankreich gegen Macrons Politik marschieren, brauchen keine Gewaltexzesse der Polizei wie vor 50 Jahren zu befürchten. Aber das Unbehagen, das bei Streiks und auf der Straße zutage tritt, kann nur zunehmen, sobald immer klarer wird, dass die vom französischen Präsidenten eingesetzten Reformen nicht genügen werden, um die Mehrheit der Bevölkerung vor dem technologischen Wandel und vor massiven Zuwanderungen aus dem Süden zu "schützen".

Im durch den Zweiten Weltkrieg auf eine gewisse Gleichheit zurückgeschraubten Frankreich – denn solche Megakonflikte verringern die Einkommensunterschiede, so Ökonomen – hatte es General de Gaulle leichter: Man wusste, wogegen man gekämpft hatte, und der moralische Vorteil eines Sieges über den Nationalsozialismus konnte fast alle politischen Kräfte binden. Heute ist das nicht mehr so. (Joëlle Stolz, 8.6.2018)