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Suchen nach den Ursachen des Stimmzettelbrands, den Premier Abadi einen "Anschlag auf die irakische Demokratie" nennt.

Foto: Reuters / Thaier Al-Sudani

Das Chaos ist perfekt, einmal mehr hat sich die Regel wiederholt, dass Wahlen im Irak relativ ruhig verlaufen – und die großen Probleme danach beginnen. Vor genau einem Monat haben die Iraker und Irakerinnen zum fünften Mal seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 ein Parlament gewählt, zum ersten Mal mit einem elektronischen System. Vor fünf Tagen ordnete das Parlament – bei einer Anwesenheit von nur 172 Abgeordneten von 329 – in einer rechtlich umstrittenen Entscheidung eine teilweise manuelle Nachzählung und die Streichung von in Binnenflüchtlingslagern und im Ausland abgegebenen Stimmen an.

Und am Sonntag ging ein Magazin im Osten Bagdads in Flammen auf, in dem zumindest ein Teil der Stimmzettel gelagert war, die nachgezählt hätten werden sollen.

Die Berichte über das Ausmaß des Schadens fallen zu unterschiedlich aus, um sich ein klares Bild machen zu können. Aber Parlamentspräsident Salim al-Jabouri, der die Initiative zur Neuauszählung betrieben hatte, verlangte am Montag Neuwahlen. Der Brand sei ein Beweis für die Wahlfälschung. Premierminister Haidar al-Abadi sprach von einer "Verschwörung" gegen die irakische Demokratie. Auch Abadi, dessen Wahlkoalition "Sieg" am 12. Mai nur Dritte wurde, hatte sich vom Befund Wahlbetrug überzeugen lassen – und dass er von einer Neuauszählung profitieren würde.

Unregelmäßigkeiten in mehreren Regionen

Dennoch rechnen Experten nicht damit, dass das Wahlergebnis, das die Liste Sairun ("Wir marschieren") des schiitischen Mullahs Muktada al-Sadr vorne sieht, auf den Kopf gestellt würde. Aber durch die Streichung der Stimmen von Flüchtlingen und Auslandsirakern verringert sich die Stimmengesamtzahl, was den Schlüssel für die Mandatsvergabe im Parlament verändern würde, erklärt der Irak-Experte Harith Hasan al-Qarawee von der Central European University (CEU) in Budapest dem STANDARD. Dass es Unregelmäßigkeiten gegeben habe, liege jedoch auf der Hand: vor allem in den Kurdengebieten, in Kirkuk, in den Flüchtlingslagern und in der Provinz Anbar.

Die Fragmentierung der konfessionellen und ethnischen Lager wurde als großer Schritt vorwärts, hin zu einer themenbasierten Politik, gesehen: So gut wie alle Wahllisten waren gemischt. Nun setzt sich jedoch wieder das alte Misstrauen durch: auch der Wahlkommission (IHEC) gegenüber, die vom Parlament vorige Woche de facto entmachtet wurde. Ob die Schritte des Parlaments verfassungsmäßig sind, sei fraglich, erklärt Qarawee. Die Revolte im Parlament ist eine der Verlierer.

Der Tigris trocknet aus

Und nun wird erstmals von einer Wahlwiederholung gesprochen. Für den Irak ist das sich auftuende lange politische Vakuum gefährlich: Es handelte sich um die ersten Wahlen seit dem Sieg über den "Islamischen Staat" beziehungsweise dessen territorialer Form, denn Kraft für Attacken und Anschläge hat die Terrororganisation noch immer. Es fehlt die politische Konsolidierung. Der Irak leidet zudem unter einer Trockenheit, die katastrophale Ausmaße annimmt. Auch durch die Wasserpolitik der Türkei und des Iran ist der Tigris an manchen Stellen fast ausgetrocknet.

Selbst wenn die teilweise Neuauszählung der Stimmen durch den Brand in Bagdad nicht aufgehalten werden sollte, sei mit einem Endergebnis erst frühestens in einem Monat zu rechnen, meint Qarawee. Und erst dann setzt sich der Fahrplan mit konstituierender Sitzung, Wahl der Parlamentspräsidenten, Staatspräsidenten und Designierung des Regierungschefs in Bewegung. Dafür sind drei Monate vorgesehen, aber schon nach früheren Wahlen wurde prozedural die Uhr angehalten.

Umstrittener "Verteidiger der Armen"

In Sympathisantenkreisen des Wahlsiegers Sadr geht die Befürchtung um, dass ihm – der sich als Verteidiger der Armen sieht – der Wahlsieg gestohlen werden soll. Sadr ist wegen der Gewalttaten seiner Anhänger in den Bürgerkriegsjahren höchst umstritten. Regierungschef würde er aber ohnehin nicht, es wurde erwartet, dass er Abadi unterstützt, mit dem er den Wunsch nach einer Expertenregierung teilt.

Einstweilen hat Sadr eine Allianz mit der Liste von Iyad Allawi (Säkulare/Sunniten) und jener des Schiiten Ammar al-Hakim gebildet. Für eine Regierungsbildung bräuchten sie jedoch weitere Partner, außerdem zeigt Allawis Liste Wataniya – auf der auch Parlamentspräsident Jabouri erfolglos antritt – mögliche Korrosionserscheinungen. Die Sunniten sehen sich einmal mehr als Verlierer. (Gudrun Harrer, 11.6.2018)