In regelmäßigen Abständen – beispielsweise anlässlich von Medienberichten über die Ergebnisse der Pisa-Studie oder der Zentralmatura – lässt sich hierzulande mit großer Wahrscheinlichkeit eine Debatte über das Schulsystem und dessen Reformbedürftigkeit erwarten. Aber auch ohne konkrete Auslöser wie diese sind das Bildungssystem und Reformbemühungen Dauerbrenner in der öffentlichen Diskussion.

Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass die damit verbundenen Themen einerseits gut an persönliche Erfahrungen – aus der eigenen Schulzeit und/oder nun aus der Perspektive der Eltern – anschließen, dass sie andererseits jedoch kaum jemals wirklich abschließend behandelt werden können. In diesem Sinne hatte bereits der deutsche Soziologe Niklas Luhmann in seinem Buch "Das Erziehungssystem der Gesellschaft" die Vermutung geäußert, "dass das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist".

Das Schulsystem ist ein Debatten-Dauerbrenner. Es braucht eine Umorientierung von (vermeintlich) sicherer Vergangenheit und Gegenwart auf unsichere Zukunft.
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Oberflächlicher Reparaturen und kosmetische Korrekturen

"Reformen sind eine Art Ersatz für Evolution", wie Luhmann in diesem Zusammenhang formuliert hat, wenngleich sie – selbst bei besten Absichten – nur bedingt dafür geeignet sind, ein komplexes System wie jenes der Schule auf die heute noch nicht absehbaren Anforderungen der Zukunft vorzubereiten. Dies wiederum hängt nicht unwesentlich mit der Unzulänglichkeit der kaum mehr zu überblickenden Reformen im Bildungsbereich zusammen:

In der Regel haben diese eher den Charakter oberflächlicher Reparaturen oder kosmetischer Korrekturen, um die Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, die Eltern und die Öffentlichkeit, die Schulverwaltung und die Schulaufsicht sowie – in Österreich von besonderer Bedeutung – die Gewerkschaften nicht mehr als unbedingt nötig zu verunsichern. Dass dieser Verzicht auf tiefgreifende Veränderungen jedoch kaum dazu beiträgt, Schule und Schulsystem langfristig fit für die Zukunft zu machen, liegt aus mehreren Gründen – wie zum Beispiel den folgenden – auf der Hand:

1. Gesellschaftliche Einbettung. Schule ist als "Institution" ein genuin gesellschaftliches Phänomen – und schon allein deshalb ist unser Schulsystem sowohl Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen als auch gleichzeitig auf die Passung mit veränderten gesellschaftlichen Umweltbedingungen angewiesen.

2. Historisches Erbe. Insbesondere das österreichische Schulsystem ist steckengeblieben in einer Zeit der – damals zeitgemäßen, aber zwischenzeitlich überholten – Modernisierung unter Maria Theresia, die zu der uns heute selbstverständlich scheinenden "Industrialisierung" des Schulwesens geführt hat.

3. Globale Trends. Diese Entwicklung setzt sich mangels Bereitschaft zu "echter" Innovation auch heute noch (weltweit) fort, wie an internationalen Trends (zum Beispiel an der "Pisa-Studie") abzulesen ist – wenngleich all dies in der "postmodernen" Gesellschaft zu kurz greift beziehungsweise zu sehr an der Oberfläche bleibt.

4. Institutionelle Innovation. Es ist zu befürchten, dass im Zuge der gesellschaftlichen Evolution viele institutionelle Strukturen – nicht nur jene der Schule sondern auch jene der Familie – in ihrer alten, bekannten Form zunehmend scheitern und damit zu einem Problem für uns werden.

5. Digitale Zukunft. Spätestens die Digitalisierung wird als neue "Emergenzebene" (vergleiche dazu "Digitalisierung: Diskurs und Naivität") die bisher gültige "Grammatik" der Schule beziehungsweise unseres Schulsystems ganz grundsätzlich in Frage stellen, wenn wir es nicht vorher tun – was im Lichte bisheriger Erfahrungen aber eher unwahrscheinlich ist.

6. Mutige Ideen. Schließlich ist schon jetzt schwer zu verstehen, wieso angesichts zunehmend ungewisser Anforderungen in der Zukunft noch an Traditionen wie Lehrplänen, Klassenverbänden, Ferien und Schulpflicht, an der klassischen Rollenstruktur im Unterricht und vielem anderen mehr festgehalten werden soll.

7. Fundamentale Veränderung. Dies macht aber Umstellungen in der Grundstruktur des Schulsystems erforderlich, nicht nur kosmetische Korrekturen wie die Einführung neuer Schultypen (NMS), neuer Unterrichtsformate (E-Learning) oder neuer Arbeitszeitmodelle (Lehrerdienstrecht).

8. Dezentrale Entwicklungen. Worauf all das hinausläuft, ist ebenfalls klar: Autonomie. Aber nicht im Sinne der derzeit diskutierten dezentralen Verwaltung – und gegebenenfalls Gestaltung – bestehender Strukturen, sondern als "echte" Freiheit, die ihrerseits neue, unerwartete Strukturbildung ermöglicht.

9. "Educational Entrepreneurship". Voraussetzung dafür ist ein Bündel aus Kreativität, Mut, Vertrauen, Risikobereitschaft bei allen beteiligten Akteuren und auf allen Ebenen. Denn: wer neue Chancen nutzen will, muss die damit als zweite Seite der Medaille einhergehenden Risiken in Kauf nehmen.

10. Unsichere Zukunft. Insgesamt bedeutet dies eine Abkehr vom nach wie vor verbreitet herrschenden modernen Glauben an die Berechenbarkeit und Steuerbarkeit von (Bildungs-)Systemen – mithin einen echten Paradigmenwechsel mit Blick auf die Zukunft der postmodernen "nächsten Gesellschaft".

10½. In den Worten des prominenten Soziologen Dirk Baecker: "Die Integrationsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die Geschichte in ihrer Gegenwart als Fortschritt oder Dekadenz, sondern die unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise. Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist."

Mehr Mut für "schöpferische Zerstörung"

Und in der Tat scheint es dem Schulsystem ja besonders schwerzufallen, von (vermeintlich) sicherer Vergangenheit und Gegenwart auf unsichere Zukunft als Orientierungsprinzip umzustellen. Zu sehr hat man sich daran gewöhnt, das Bekannte zum Maßstab des Urteilens und Handelns zu machen: Die Gegenwart wird an der Vergangenheit (Bildungskanon) gemessen, und auch die Zukunft wird in den Kategorien der Gegenwart definiert (Kompetenzkataloge). Allerdings wäre es übereilt, allein der Bildungspolitik und der Bildungsadministration die Schuld dafür zu geben – denn schließlich entsprechen die beiden damit oft nur den Erwartungen einer Gesellschaft, die zwar Innovation fordert, um Chancen zu nutzen, die aber gleichzeitig kaum bereit ist, damit einhergehende Risiken zu tragen.

Nichtsdestotrotz wäre angesichts weltweit zu beobachtender und in Zukunft vermehrt zu erwartender "disruptiver" Veränderungen (gerade in Österreich) dringend mehr Mut für "schöpferische Zerstörung" (J. A. Schumpeter), also mehr "Educational Entrepreneurship" anzuraten. Zwar lässt sich nicht sagen, wie dann die (postmoderne, postindustrielle, ...) Schule der Zukunft aussehen wird. Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit wird diese Schule mit der (modernen, industriellen, ...) Schule der Gegenwart so wenig gemein haben wie die heute so selbstverständlich scheinende Schule mit ihren (vormodernen, vorindustriellen) Vorläufern der Vergangenheit – sodass letztlich aktuelle, vermeintlich "innovative" Neuerungen im Rückblick vermutlich als (eher unbeholfene) Übergangslösungen erscheinen werden. (Paul Reinbacher, 29.6.2018)