Das Mutter-Heimat-Statue in Wolgograd überragt das WM-Stadion im Hintergrund. Errichtet wurde das Monument zum Gedenken an den Sieg der sowjetischen Roten Armee im "Großen Vaterländischen Krieg", besonders an jenen in der Schlacht gegen die deutsche Wehrmacht um das ehemalige Stalingrad.

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Jaitner: "Die Größe des Landes ermöglicht auch Freiheit."

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STANDARD: Der britische Außenminister Boris Johnson vergleicht die WM 2018 in Russland mit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin. Großbritannien schickt keine politischen Vertreter. Wie ernst darf man solche Aussagen nehmen?

Jaitner: Man darf das ernst nehmen, weil Johnson der Außenminister einer Atommacht ist. Der Vergleich ist aber absurd. Das wäre auch eine Herabwürdigung der Opfer des Nationalsozialismus. Russland ist kein faschistischer Staat und auch keine Diktatur wie Kasachstan oder Weißrussland. In Russland sind die gesellschaftlichen Verhältnisse viel umkämpfter. Es gibt eine starke Dominanz der Staatsmedien, aber man kann sich trotz Repression alternative Informationen besorgen.

STANDARD: Russland steht international am Pranger. Kann eine Fußball-WM an der politischen Großwetterlage etwas ändern?

Jaitner: Nein. Weder innerhalb Russlands noch geopolitisch wird sich langfristig etwas verändern. Für Russland ist es wichtig zu zeigen, dass das Land eine so große Veranstaltung stemmen kann. Für eine politische Annäherung fehlt es an Ambitionen auf westlicher und russischer Seite.

STANDARD: Russland schränkt bürgerliche Freiheiten ein, übt Zensur und unterdrückt Oppositionelle. Wird während der WM ein potemkinsches Dorf aufgebaut?

Jaitner: Es soll natürlich ein positives Image gemalt werden. Die Realität in Russland ist eine andere. Es stellt sich die Frage: Ist es für das Land sinnvoll, bei extremer Abhängigkeit von Öl und Gas in Zukunft weitere Großveranstaltungen auszurichten? Oder wäre es nicht besser, das Geld langfristig in die soziale Entwicklung des Landes und in die Differenzierung der Wirtschaft zu investieren?

STANDARD: Das Volk will Stabilität und ein starkes Russland. Ein Erfolg, den allein Wladimir Putin für sich reklamieren kann?

Jaitner: Nein. Das autoritäre Regime ist schon vor Putin entstanden. 1993 ließ Ex-Präsident Boris Jelzin im Konflikt um die Privatisierungspolitik das Parlament mit Panzern beschießen und schaffte mit einer präsidentiellen Verfassung den Übergang zu einer stark autoritären Staatsführung. Unter Putin gab es eine Konsolidierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Große Konzerne wurden privatisiert, das nächste Ziel war und ist deren Expansion ins Ausland. Das geschieht auf verschiedenen Wegen, auch mit Fußball und Sport.

STANDARD: Sie haben in Perm und Moskau gelebt. Gibt es Vorurteile im Westen, die abzubauen eine WM helfen kann?

Jaitner: Viele Russen sind sehr freundlich und viel kritischer gegenüber der Politik, als das oft dargestellt wird, eine kulturelle Affinität zum Autoritarismus würde ich nicht sehen. Moskau und St. Petersburg sind nicht weniger modern als Wien. Was Digitalisierung betrifft, sind sie sogar einen Schritt weiter. Gerade die Größe des Landes ermöglicht auch viel Freiheit. In den entlegensten Gegenden Sibiriens ist der autoritäre Staat sehr fern.

STANDARD: Mit Kosten von zehn Milliarden Euro wird diese WM die teuerste aller Zeiten. Öl- und Gaseinnahmen sprudeln nicht mehr so wie vor zehn Jahren. Gibt es keine Empörung in der russischen Gesellschaft?

Jaitner: Jein. Infrastrukturmaßnahmen werden auch positiv gesehen. Das hohe Ausgabenniveau in dem Bereich zu Zeiten der Sowjetunion konnte nicht aufrechterhalten werden. Dreißig Jahre auf Sparflamme zu leben spüren die Menschen außerhalb der Zentren massiv. Die Gegensätze verschärfen sich in der Provinz, das Hinterland fällt immer mehr zurück, profitiert aber nur bedingt von der WM.

STANDARD: Baukosten für die WM-Stadien explodierten, viel Geld floss in private Taschen. Herrscht in der Bevölkerung Gleichgültigkeit gegenüber Korruption?

Jaitner: Viele Menschen sind empört, aber oft bleibt ihnen nichts anderes, als mitzuspielen. Ohne Korruption gibt es etwa beim Arzt keinen schnellen Termin. Unter den herrschenden Bedingungen ist es schwierig, Druck aufzubauen. Die Erfahrung der Gesellschaft mit Protesten ist nicht so gut. Das Ende des Demokratisierungsprozesses in der Perestroika wirkt nach. Es wurden viele Erwartungen enttäuscht. (Florian Vetter, 13.6.2018)

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