Wien – Gleich zweimal innerhalb von zwei Stunden kümmert man sich am Wiener Straflandesgericht um eine Demonstration am 1. Mai 2015. Der Grund: Die Staatsanwaltschaft wirft zwei jungen Frauen vor, durch ihre Teilnahme an einem Marsch der Anatolischen Föderation zu Terror aufgefordert oder ihn gutgeheißen zu haben.

Den Beginn macht Sirin S., heute 21 Jahre alt, in Österreich geboren und aufgewachsen und unbescholten. "Interessieren Sie sich für türkische Innenpolitik?", will Richter Norbert Gerstberger von ihr wissen. "Nein, ich lebe in Österreich", hört er. Warum sie dann uniformiert an einem Maiaufmarsch teilgenommen hat, bei dem auch Bilder von Selbstmordattentätern der unter anderem von den USA und der EU als terroristisch eingestuften türkischen marxistisch-leninistischen DHKP-C präsentiert wurden? Sie habe damals ihren Vater begleitet.

Choreografie bei Picknick geprobt

Die von Andreas Rest verteidigte Angeklagte präsentiert sich überhaupt erstaunlich unwissend. Die inkriminierten Transparente habe sie nicht gesehen, sie selbst sei nur in der Formation mitgegangen und habe eine rote Fahne geschwungen, das habe man eine Woche zuvor bei einem Picknick trainiert.

Damals dürfte auch das Outfit – olivgrüne Bluse und schwarze Hose – vereinbart worden sein. Gekauft wurde das bei einer Modekette, wo auch die Mitglieder der deutschen Partei Die Partei ihre Polyesteranzüge und roten Krawatten kaufen. Vor Ort erhielt S. dann auch noch ein rotes Halstuch. "Mir ist das so wie ein Theaterstück vorgekommen", will sie sich keine großen Gedanken gemacht haben. Auch bei Treffen der Anatolischen Föderation habe sie nie etwas über politische Inhalte erfahren: "Wir haben gefrühstückt, geredet und gelacht", sagt sie.

Richter Gerstberger glaubt ihr diese Naivität zwar nicht, spricht sie aber dennoch frei. In seiner Begründung führt er aus, dass ihm die subjektive Tatseite fehle: Die Tatsache allein, dass S. am 1. Mai eine rote Fahne schwenkte, bedeute noch nicht, dass sie damit auch zu einem Anschlag aufforderte oder solche unterstützte. Staatsanwältin Viktoria Berente ist mit dem Urteil nicht einverstanden und meldet Berufung an.

Auch 19-Jährige gibt sich unwissend

Zwei Stunden später ist es Richterin Daniela Zwangsleitner, die über Basak A. urteilen muss. Auch die 19-Jährige wird von Andreas Rest verteidigt, und auch sie will keine Ahnung von Politik oder Selbstmordattentätern haben. Sie habe einfach gemacht, was alle anderen auch gemacht haben, sagt sie. "Ich war damals ja noch ein Kind!", beteuert die Unbescholtene. "Sie waren 16, da ist man kein Kind mehr", widerspricht Zwangsleitner, die im Gegensatz zu Gerstberger mit der Verantwortung der Angeklagten überhaupt nicht zufrieden ist. Sie vertagt auf August: "Ich habe gedacht, wir können das mit einer Diversion beenden. Aber wenn Sie jetzt sagen, Sie wissen von gar nichts, dann kann ich alle Ihre Freunde von damals aufmarschieren lassen, um festzustellen, was Sie gewusst haben." (Michael Möseneder, 14.6.2018)