Der eisige Rand der Antarktis zerkrümelt – und zwar bedeutend schneller als befürchtet.
Foto: Ian Phillips, Australian Antarctic Division

Die Klimaerwärmung nagt am Eis der Polregionen – daran besteht mittlerweile keinerlei Zweifel mehr. Im Norden schmilzt die Arktis einer Ära entgegen, in der die Sommer die Region praktisch völlig eisfrei machen könnten. Jüngste Modelle prognostizieren bei einer globalen Durchschnittserwärmung von zwei Grad Celsius – das liegt am obersten Rand des Pariser Klimaübereinkommens von 2015 – eine Fifty-fifty-Chance, dass das arktische Meereis die warme Jahreszeit doch überleben wird. Bei drei Grad könne man bereits in weniger als 20 Jahren mit einer im Sommer eisfreien Arktis rechnen, so die Befürchtung.

Am Südpol ist die Situation nicht unbedingt besser. Weil dort 90 Prozent allen irdischen Eises und 70 Prozent des weltweiten Süßwassers gebunden sind, hätte selbst das Abschmelzen eines Bruchteils der dortigen Eismassen ungeahnte globale Auswirkungen. Würde theoretisch das gesamte Eis zu Wasser werden, stiege das weltweite Meeresniveau im Schnitt um 58 Meter. Wie schlimm es tatsächlich um die Antarktis steht, lässt sich an einer ganzen Reihe von Studien ablesen, die nun im Fachjournal "Nature" präsentiert wurden.

Drei Billionen Tonnen Eisverlust in 25 Jahren

So rekapitulieren internationale Forscher um Andrew Shepherd von der University of Leeds (Großbritannien), wie viel Eis die Antarktis bisher eingebüßt hat: Anhand von Satellitenbeobachtungen und der Kombination von drei verschiedenen Messmethoden stellte das Team der länderübergreifenden Kollaboration Ice Sheet Mass Balance Inter-comparison Exercise (IMBIE) zwischen 1992 und 2017 einen Eisverlust von drei Billionen Tonnen fest, was für sich genommen bereits zu einer Erhöhung des Meeresspiegels um annähernd acht Millimeter geführt hat. 40 Prozent dieses Anstiegs erfolgten allein in den vergangenen fünf Jahren.

Diese gewaltige Zahl sprengt jegliche Vorstellungskraft. Am ehesten wird sie fassbar, wenn man sie auf kleinere Zeiteinheiten herunterbricht: Drei Billionen Tonnen in 25 Jahren bedeuten im Durchschnitt rund 3.800 Tonnen Eis, die in der Antarktis in jeder einzelnen Sekunde verloren gingen – oder, noch anschaulicher, über 1.500 SUVs.

Beschleunigte Entwicklung

In Wahrheit ist es heute sogar noch viel mehr, denn die Daten lassen wenig Zweifel daran, dass sich das Abschmelzen enorm beschleunigt hat. Während die Antarktis vor 2012 jährlich 76 Milliarden Tonnen Eis verlor, waren es in den nachfolgenden Jahren im Durchschnitt 219 Milliarden Tonnen pro Jahr (bzw. 7.000 Tonnen pro Sekunde), der Großteil davon in der Westantarktis. Die Ostantarktis ist im Unterschied dazu bisher noch relativ stabil geblieben, obwohl sich auch hier der frühere Eiszuwachs mittlerweile beträchtlich verringert hat.

"Unserer Analyse zufolge verzeichnet die Antarktis in den vergangenen zehn Jahren einen zunehmenden Verlust der Eismasse, was einen Anstieg des Meeresspiegels verursacht, der schneller ist als je zuvor in den vergangenen 25 Jahren", erklärt Shepherd.

Zusammenhang zwischen Eisschmelze in der Antarktis und dem Ansteigen des Meeresspiegels zwischen 1992 und 2017.
Grafik: imbie/Planetary Visions

Ein Prozess, der sich langsam aufschaukelt

Die Daten lassen sogar auf einen sich selbst verstärkenden Kaskadeneffekt in der laufenden Entwicklung schließen. Wie Rob Massom von der Australian Antarctic Division (AAD) und seine Kollegen in einer anderen "Nature"-Studie berichten, führt der ansteigende Ozean rund um den Südpol zu einem weiteren Zusammenbruch der Schelfeismassen. Der Mechanismus dahinter ist einleuchtend: Das schwindende Meereis insbesondere in der Region um die Antarktische Halbinsel gewährte dem stürmischen Meer seit den späten 1980er-Jahren immer besseren Zugang zum Rand des Schelfeises.

Die Wellen des Ozeans versetzen dieses Eis in seinem äußeren Bereich in Bewegung, vergrößern dort bereits bestehende Bruchlinien, schaffen zudem neue Spalten und führen letztlich zu teilweise enormen Abbrüchen. Die Abspaltung des gigantischen Eisbergs A68 vom Larsen-C-Schelfeis im Juli 2017 sowie einiger weiterer Eisberge in den Jahren davor sei durchaus als Symptom dieser Entwicklung zu werten, so die Wissenschafter.

Das Fass steht vor dem Überlaufen

"Das könnte der letzte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt", sagt Massom. "Dieser sich aufschaukelnde Prozess löst möglicherweise den Kollaps von weiten Teilen des ohnehin schon geschwächten Schelfeises aus." Für Koautor Luke Bennetts von der australischen University of Adelaide unterstreichen diese Ergebnisse die Notwendigkeit, Meereis und Ozeanwellen in bestehenden Modellen noch mehr zu berücksichtigen.

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Weniger Meereis rund um die Antarktis bedeutet, dass Wellen und schwerer Seegang dem Schelfeis mehr zusetzen können.
Foto: Reuters/Alexandre Meneghini

Einen trügerischen Lichtblick für die Zukunft der Antarktis liefert eine weitere Studie in "Nature": Bisher war man davon ausgegangen, dass die Eiskappen an den Polen schon seit dem Höhepunkt der letzten Kaltzeit vor 20.000 Jahren kontinuierlich an Masse verlieren. Die damalige Erwärmung ließ den globalem Meeresspiegel wieder ansteigen und die Eisbedeckung schrumpfen. In welchem Ausmaß sich das Westantarktische Eis damals allerdings zurückzog, überraschte nun eine Gruppe um Jonathan Kingslake von der Columbia University (New York).

Das Land hob sich nach der Schmelze

Wie die Wissenschafter auf Basis neuer Messwerte und Modelle berichten, lag der Rand des antarktischen Schelfeises vor rund 10.000 Jahren sogar um 200 Kilometer näher am Festland als heute – zu einem völligen Zusammenbruch der antarktischen Schelfeismassen kam es trotzdem nicht. Der Grund dafür dürfte nach Ansicht der Forscher im Schrumpfungsprozess selbst begründet liegen: Von einem Gutteil des enormen Eisgewichtes befreit, begann sich die Erdkruste damals regional langsam wieder anzuheben, was letztlich zu einem erneuten Vorrücken des Schelfeisrandes führte.

Video: Der Rückzug der antarktischen Eismassen in den vergangenen zwei Jahrzehnten.
NPG Press

"Die Erwärmung nach der letzten Eiszeit ließ die Eismassen in der Westantarktis dramatisch schrumpfen", erklärt Torsten Albrecht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, einer der Hauptautoren dieser Arbeit. "Das Eis zog sich in weiten Teilen der Region in einem Zeitraum von 1.000 Jahren um mehr als 1.000 Kilometer zurück. Nun aber stellten wir fest, dass sich dieser Prozess zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder umkehrte. Statt zu kollabieren, rückte das Schelfeis erneut um etwa 400 Kilometer vor – allerdings dauerte dieser Vorgang 10.000 Jahre."

Letzteres sei auch der Grund, warum beim aktuellen Abschmelzen der Antarktis von diesem Prozess keine Rettung zu erwarten ist: Die ungeheuer langsame Hebung der Erdkruste kann schlicht mit der Geschwindigkeit, mit der das Eis derzeit auf dem Südkontinent verschwindet, nicht mithalten. "Was vor etwa 10.000 Jahren geschah, bestimmt wohl eher nicht die Richtung, in die wir uns aufgrund des Treibhauseffekts derzeit bewegen", so Reed Scherer (Northern Illinois University), Koautor der Studie. "Setzt sich der Rückzug des antarktischen Eisschildes aufgrund der anthropogenen Klimaerwärmung im aktuellen Ausmaß fort, wird uns auch die Hebung des Südkontinents nicht rechtzeitig vor den Konsequenzen bewahren." (tberg, 13.6.2018)