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Der Fall Oleg Senzow braucht Aufmerksamkeit. An dem Regisseur von der Krim wurde offenbar ein Exempel statuiert.

Foto: AP Photo/Evgeny Feldman

Mitten in Moskau, vor dem Roten Platz, steht eine große Uhr. Dort wurde der Countdown zur Fußball-WM heruntergezählt – die Tage, die Stunden, die Sekunden.

Auch Maria Tschuprinskaja zählte die Tage. Doch in umgekehrter Reihenfolge. Am Donnerstag, wenn in Moskau mit der Partie Russland gegen Saudi-Arabien die Endrunde angepfiffen wird, druckt sie die Zahl 32 auf ihre Flugblätter. Und am nächsten Tag die Zahl 33. Und übernächsten Tag 34. Die Tage, seitdem der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in einem Gefängnis in Nordsibirien, 4.000 Kilometer nordöstlich von Moskau, hungert.

"Extremistisches" Motiv

Die 37-jährige Schauspielerin, blonder Pony und roter Lippenstift, kennt Senzow nicht persönlich. "Aber meine Timeline ging mit Senzow-Postings über", sagt sie. Sie fing an, auf Veranstaltungen über ihn zu sprechen und Flugblätter zu drucken. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift #FreeSentsov und dem Bild des schlaksigen 41-Jährigen hinter Gittern. Drei Druckereien hätten den Auftrag, T-Shirts zu bedrucken, abgelehnt. Eine sogar schriftlich, weil das Motiv "extremistisch" sei. Erst die vierte Druckerei sagte zu. Heute steht Tschuprinskaja an einer Metrostation in Moskau und verteilt Flugblätter – wie jeden Tag seit Wochen.

Dass Oleg Senzow gerade jetzt in den Hungerstreik getreten ist, ist kein Zufall. Senzow selbst stammt aus Simferopol auf der ukrainischen Halbinsel Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde. Das folgende Referendum war in einer völkerrechtlich nicht bindenden Uno-Resolution für ungültig erklärt worden.

20 Jahre Straflager

Senzow hat die proeuropäischen Proteste in Kiew unterstützt und ist ein erklärter Gegner der Annexion. Vor vier Jahren wurde er in Simferopol festgenommen und später in einem bizarren Prozess zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Am 14. Mai, genau einen Monat vor dem Anpfiff der WM, ist er in den Hungerstreik getreten. Er fordert, dass 64 politische Gefangene aus der Ukraine in Russland freigelassen werden. Seine eigene Freilassung fordert er indes nicht

Während ihm die russischen Behörden vorwerfen, Terrorakte auf der Krim geplant zu haben, und ihn die Staatsmedien als "Terrorist" schmähen, gehen Beobachter davon aus, dass der Fall dazu dient, um ein Exempel zu statuieren: Wer kritisiert, wird weggesperrt. So stufen ihn internationale Organisationen wie Amnesty International als politischen Gefangenen ein. Zuletzt hat der französische Präsident Emmanuel Macron den Fall gegenüber Wladimir Putin angesprochen. Doch Putin verbittet sich jede Einmischung in die Causa. Immerhin sei Senzow nach Auffassung des Kreml kein Bürger der Ukraine mehr, sondern Russlands.

Versammlungsrecht eingeschränkt

Die Aktivisten hoffen, dass die WM helfen wird, die Aufmerksamkeit auf Senzow zu lenken. Doch werden sie auch Flugblätter vor den Stadien verteilen? Lieber nicht, winkt die junge Künstlerin Alisa ab. "Zu viel Polizei." Während der WM haben die Behörden das Versammlungsrecht noch weiter eingeschränkt. Im Moskauer Zentrum fahren dieser Tage noch mehr von den gefürchteten Polizeibussen mit den vergitterten Fenstern auf als sonst.

Derweil fährt Tschuprinskaja zur nächsten Aktion. Nicht alle finden ihr Engagement gut, sagt sie. Manche haben Angst, doch die meisten sprechen über Politik, wie wenn man in eine bittere Zitrone beißt. Auch in Künstlerkreisen. "Doch hier geht es nicht um Politik, sondern um einen Menschen!", kontert sie dann immer. Während im Metrozug die letzten News über die nagelneuen Screens flimmern – "Die Flughafenzüge fahren während der WM bis drei Uhr früh!" -, hängt Tschuprinskaja nur an ihrem Handy. Ständig trudeln neue Nachrichten ein. Ein befreundeter Regisseur schreibt: "Sag mir bitte, wie ich helfen kann."

Kleine Hoffnung

Am Treffpunkt wartet schon die Regisseurin Oksana Bytschkowa. "Hast du schon gehört?", fragt sie aufgeregt. Fast fünf Stunden hätten die Außenminister des Normandie-Formats (Ukraine, Russland, Deutschland, Frankreich) diese Woche in Berlin verhandelt, wohl auch über einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine. Details sind aber nicht bekannt.

Kurz keimt Hoffnung auf. Doch gleich stehen die Frauen wieder im Moskauer Regen. Einige Passanten nehmen die Flugblätter interessiert entgegen, aber viele lehnen ab. Ein junger Mann zerreißt den Zettel vor ihren Augen. Er schreit ihnen noch wütend etwas nach, aber der Wind verschluckt seine Worte. (Simone Brunner aus Moskau, 14.6.2018)