Die Chris-Marker-Ausstellung in Paris läuft noch bis 29. Juli.

Foto: Cinematheque francaise

Im Französischen existiert das Jahr 1968 in der Mehrzahl. Historiker und Intellektuelle sprechen von "les années soixante-huit", die sich über die Epoche zwischen 1962 bis 1981 erstrecken, vom Ende des Algerienkriegs zum Wahlsieg der Linken unter François Mitterrand. Für diese Zeitrechnung spricht, dass sie deckungsgleich ist mit der Hauptphase im Werk von Chris Marker.

Kein anderer Filmemacher seiner Generation hat, mit Ausnahme von Jean-Luc Godard, aus den Umbrüchen des Pariser Mai so radikale Rückschlüsse für die Kinopraxis gezogen wie er. Er gründet Filmkollektive, dreht zusammen mit Regiekollegen oder Amateuren brandaktuelle Kurzfilme und Traktate, die sich auf die sowjetische Tradition der filmischen Zeugenschaft berufen. Zugleich ahnt sein Kino diese Umbrüche voraus.

Bereits 1962 zeigt er in Der schöne Mai, eigentlich eine Feldforschung über das Lebensgefühl der Pariser im "ersten Frühling nach dem Krieg", wie die Politik nun auf der Straße stattfindet, filmt Demonstrationen und Trauermärsche nach dem Massaker, das Polizeipräsident Maurice Papon unter Gegnern des Algerienkriegs anrichten ließ.

Paris in Schutt und Asche

Im selben Jahr dreht er den Scifi-Film Am Rande des Rollfelds, der ein Paris beschwört, das in Schutt und Asche gefallen ist. 1967 inspiriert und überwacht er den Montagefilm Fern von Vietnam, in dem er dem Kampfesmut der Nordvietnamesen ein Denkmal setzt.

Damit wäre die Arbeit des Propheten eigentlich getan, aber Markers engagierte Schaulust erhält durch die Streiks, Arbeiter- und Studentenproteste von 1968 neuen Elan. Als melancholischer Demokrat ist er auch zur Stelle, als man 2002 gegen die Präsidentschaftskandidatur Le Pens protestiert und ein Jahr später gegen den Irakkrieg. Empathisch begleitet er die Menschen, wenn diese sich auf der Straße Gehör verschaffen.

Vielfältiger Künstler

Die Ausstellung, die ihm derzeit die Cinémathèque française widmet, heißt zwar Die sieben Leben eines Cineasten. Sie präsentiert ihn als Schriftsteller, Verleger, Weltreisenden, Antikolonialisten, Dokumentaristen, Erfinder des Foto- und Essayfilms sowie als Multimediakünstler, der immer flink auf die neuesten Technologien zugreift. Aber all diese Aktivitäten führen hin zur Epochenschwelle von 1968 oder zu ihr zurück. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg ist der Dokumentarfilm Auch Statuen sterben über die Ausbeutung afrikanischer Kunst, den Marker 1953 zusammen mit Alain Resnais dreht und der von der Zensur für elf Jahre verboten wird.

In Sans Soleil – Unsichtbare Sonne setzt er 1982 seine wachen Erkundungen des Verhältnisses der Ersten zur Dritten Welt fort. Unterdessen zieht er 1977 in Rot ist die blaue Luft eine erste Bilanz der Revolutionen seit 1917, die in der Cinémathèque auf einer tückisch strukturierten Zeittafel dargestellt sind. Später wird er den Film mehrmals überarbeiten, aber ideologisch nicht revidieren. Die Bilder zirkulieren in seinem Werk, finden sich an neuen Orten und in neuen Kontexten wieder.

Globales Denken

In der Pariser Schau wird deutlich, wie eminent global sein Denken von Anfang an ist. In den 1950er-Jahren bringt er die Buchreihe Petite Planète heraus, die das Genre des Reiseführers radikal verändert. In seinen Filmen über Vietnam und den Pariser Mai nimmt er die anderen Konfliktherde der Zeit in den Blick, namentlich die Aufbruchsbewegungen des Prager Frühlings und in Lateinamerika. Marker ist ein Reisender durch die Kriege des 20. und 21. Jahrhunderts, der Unterdrückung, Grauen und Leid entdeckt, aber auch Möglichkeitsräume. Sein Werk weist ihn als politisierten Homo ludens aus, der seinem Denken keine Grenzen setzt. (Gerhard Midding aus Paris, 14.6.2018)