Wien – Im türkischen Generalkonsulat im 13. Wiener Gemeindebezirk ist der Zwölfstundentag schon voll angekommen. Mit den Arbeitsmarktplänen der türkis-blauen Bundesregierung hat das wenig zu tun, es geht vielmehr um die vorgezogenen türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Von 9 Uhr früh bis 21 Uhr am Abend hat dort das Wahllokal geöffnet, jeden Tag seit dem 7. und noch bis zum 19. Juni. Am 24. Juni wird schließlich in der Türkei gewählt. Bis dahin werden die Konsulatsmitarbeiter, die Beisitzerinnen der Parteien und das Sicherheitspersonal auch noch die letzten Überstunden mit Geduld abspulen. An den wählerfreundlichen Öffnungszeiten merkt man durchaus, wie viel dem türkischen Staat und vor allem dessen Staatspräsident Tayyip Erdoğan an der Wählerschaft in Österreich liegt.

Die Meinungen der türkischen Wählerinnen und Wähler in Österreich zum Präsidenten Erdoğan gehen weit auseinander.
DER STANDARD

Der Andrang im Generalkonsulat an der Hietzinger Hauptstraße ist beim Lokalaugenschein am Donnerstagmittag zwar nicht überwältigend, aber rege und vor allem konstant. "Am Wochenende ist immer noch mehr los. Da geht die Schlange bis zur Straße hinaus", erklärt die höfliche Konsulatsmitarbeiterin während des Rundgangs.

Gutes Pflaster

Neben Deutschland (rund 1.400.000 Wahlberechtigte), Frankreich (rund 330.000) den Niederlanden (rund 250.000) und Belgien (rund 133.000) gibt es auch in Österreich mit rund 107.000 Wahlberechtigten ein großes Wählerreservoir für Erdoğan. Dieser konnte sich der Treue zahlreicher Auslandstürkinnen und -türken zuletzt meist gewiss sein, erzielte er im europäischen Ausland doch meist weit bessere Ergebnisse als in der Heimat – auch wenn sich die Wahlbeteiligung meist im niedrigen 40-Prozent-Bereich einpendelte und manche Staaten mit relativ wenigen Auslandstürken wie die USA oder Großbritannien aus diesem Trend ausscherten. Hierzulande können Wahlberechtigte ihre Stimme im Bregenzer, Salzburger oder im Wiener Generalkonsulat abgeben und darüber abstimmen, wer die Türkei künftig mit großer Machtfülle regiert.

Die mit der neuen Legislaturperiode in Kraft tretende, revidierte Verfassung wird den oder die Wahlsieger/in mit umfassenden Kompetenzen ausstatten. Auch wenn viele Beobachter von einem knappen Rennen ausgehen, glauben die wenigsten, dass dies nicht Tayyip Erdoğan sein wird. Nachdem er das Zwischentief in den Umfragen durchtauchen konnte, scheint es derzeit, als würde er sich im Rennen um die Präsidentschaft laut Wahlprognosen gegen jeden Kandidaten in einer etwaigen Stichwahl durchsetzen. Auch im Kampf um die Aufteilung der Parlamentssitze liegt Erdoğan derzeit mit seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) klar auf dem ersten Platz und kratzt an der Absoluten. Die Opposition glaubt daran selbstverständlich nicht.

Der als Wahllokal fungierende Raum im türkischen Generalkonsulat im 13. Wiener Gemeindebezirk ist im regulären Betrieb das Wartezimmer für den Parteienverkehr.
Foto: Michael Luger

Alternativlos?

"Natürlich wähle ich unseren Anführer Erdoğan. Es gibt doch keine Alternative! Schauen Sie sich einmal an, was er für unser Land getan hat, wie er es aus dem Nichts aufgebaut hat, wirtschaftlich, infrastrukturell und politisch, nachdem wir jahrzehntelang von den Westmächten unterdrückt wurden. Heute sind wir wieder wer im Nahen Osten", sagt der Geschäftsmann Attila, der gerade seine Wahlkarte in die Wiener Urne fallen ließ. Auch Erdoğans Bürgernähe ist für viele Türkinnen und Türken ein Wahlmotiv. "Er muss das nicht machen, und er geht trotzdem auf die Menschen zu, er ist nicht abgehoben", begründet Faro etwa seine Stimme für Erdoğan.

Indirekte Wahlkampfhilfe für Erdoğan

Einig ist man sich unter den Erdoğan-Anhängern, dass das derzeit schlechte österreichisch-türkische Verhältnis dem aktuellen Staatspräsidenten nur zusätzlich hilft. "Die populistische und antitürkische Stimmung, welche die österreichische Regierung derzeit pflegt, kommt uns nur zugute. Erdoğan weiß das auszunützen. Dank Kurz und Strache bekommt Erdoğan locker drei bis fünf Prozent mehr", glaubt Emre.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) würden dieses Ergebnis dann ihrerseits wieder nutzen, um den antiislamischen und antitürkischen Kurs der Regierung zu legitimieren, analysieren einige Wähler die aktuelle Situation. "Jetzt erst recht Erdoğan", sagt etwa auch Khan, der sich aufgrund der verbalen Attacken von Kanzler Kurz entschloss, zum ersten Mal überhaupt wählen zu gehen.

Modern versus konservativ

Das schlechte bilaterale Verhältnis ist wohl auch der einzige Punkt, auf den sich alle Befragten einigen können. Selbst Erdoğan-Gegner monieren die vergifteten Beziehungen, deren Auswirkungen sie tagtäglich zu spüren bekommen. Die "gesellschaftliche Wut" in Österreich und ganz Europa auf Türken und andere Ausländer werde größer, gibt Akbulut zu bedenken. "In der Straßenbahn, im Fußballklub, überall werden wir schräg angeschaut. Mehr als früher." Auch Erdoğan trage Mitschuld daran, auch deshalb wähle er die kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). "Sie haben als Einzige eine europäische, eine wirklich demokratische Ausrichtung. Ein bisschen wie eure Grünen", ergänzt der junge Student.

Für den frischgebackenen Familienvater Ferit war die Demokratie auch der Hauptgrund, die HDP zu wählen. "Nicht nur für mich, für ihn hier", sagt er, während er auf seinen Sohn im Kinderwagen zeigt. "Ich will nicht, dass er unter einem Diktator aufwächst, wenn ich eines Tages zurückgehe in die Türkei."

Fatima, eine 25-jährige Studentin, durfte nicht wählen, weil sie die österreichische Staatsbürgerschaft hat. Sie war da, um nachzufragen, wie ihr kranker Vater in Niederösterreich wählen könne. Wen sie wählen würde an seiner Stelle? "Eigentlich bin ich für das Wahlgeheimnis, aber dass ich den Erdoğan nicht wähle, sehen Sie doch sofort. Schauen sie sich einmal um. Ich kann Ihnen aus 20 Metern Entfernung sagen, wer ihn wählt und wer einen modernen, europäischen Geist hat und es nicht tut."

Ganz so einfach ist die Kategorisierung jedoch nicht. Zahlreiche junge, modern gekleidete Menschen sagen dem STANDARD offen, dass sie für Erdoğan gestimmt haben. Anders wären wohl auch jene mehr als 70 Prozent nicht zu erklären, die im vergangenen Jahr in Österreich Erdoğan bei seinem Vorhaben einer Verfassungsänderung unterstützten. Erdoğan hat, wie auch in der Türkei, viele Unterstützer in Österreich.

Hinter vorgehaltener Hand

Erdoğan-Kritiker sind vorsichtiger mit ihren Aussagen. Vor laufender Kamera oder mit eingeschaltetem Mikrofon wollen die Wenigsten überhaupt etwas sagen. "Sorry, ich würde es euch gerne in die Kamera sagen, aber ich war einst selbst Journalist in der Türkei, und jetzt bin ich hier. Freiwillig war das nicht, den Rest könnt ihr euch eh denken. Für Erdoğan, diesen Faschisten, werde ich nie mein Kreuz machen", erläutert der Exjournalist im STANDARD-Gespräch.

Sechs Kandidaten treten zur Präsidentschaftswahl an. Acht Parteien kandidieren für die Parlamentswahlen. Die Oppositionsparteien nützen zum Teil das von Erdoğan eingeführte System der Wahlallianzen, um den Einzug trotz der hohen Zehnprozenthürde zu garantieren.
Foto: Michael Luger

An Selbstbewusstsein fehlt es keinem der großen politischen Lager. HDP-Wähler sind sich sicher, dass sie die extrem hohe Zehnprozenthürde für den Einzug ins Parlament erneut erreichen werden. Unterstützer des Oppositionszusammenschlusses Bündnis der Nation aus Republikanischer Volkspartei (CHP), Gute Partei (İYİ), Partei der Glückseligkeit (SP) und Demokratischer Partei (DP) glauben definitiv an einen Verlust der absoluten Mehrheit der regierenden Volksallianz aus AKP und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Ebenso glauben sie an einen Wahlsieg des aussichtsreichsten Gegenkandidaten für die etwaige Stichwahl, Muharrem İnce. Erdoğan-Unterstützer sind sowieso sehr selbstbewusst und rechnen fix mit "zweimal Absolute".

Ob sich nach geschlagener Wahl das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa bessern wird, wagt niemand abzuschätzen. Die angekündigten Schließungen von Moscheen stoßen so manchem immer noch sauer auf. "Wenn die Auslandsfinanzierung der Imame wirklich das Problem ist, soll Österreich, soll der Kurz doch selbst welche finanzieren", schlägt etwa Ercan Karaduman vor, ehemaliger Pressesprecher der ausgesprochen AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). So mancher denkt sich aber, dass die Beziehungen am Tiefpunkt sind und es deshalb nurmehr bergauf gehen kann. "Irgendwann werden sie sich wieder zusammenraufen müssen", sagt Cem, die stetigen Auseinandersetzungen hat er satt. (Fabian Sommavilla, 17.6.2018)