Sie sind in Mode gekommen und ja auch nicht ganz unberechtigt: Die Kommentare, die angesichts der globalen Bedrohungen, des Einbrechens der Einheitsfront gegen Putin und nicht zuletzt der erratischen Politik Trumps sentimental werden und mit tiefem Bedauern den Niedergang dessen gekommen sehen, was man mehr als ein halbes Jahrhundert lang unter dem "Westen" verstanden hat. Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, in seinen Jugendrevoltezeiten noch wütender Anti-Amerikanist, stimmt nicht weniger in diesen Befund ein als der STANDARD-Kolumnist Hans Rauscher, der immer schon auf dieser Seite gestanden hat.

Das falsche Selbstbild des Westens

Suggeriert wird dabei selbstverständlich immer eine moralische Überlegenheit des Westens. Geredet wird schließlich nicht nur über die wirtschaftlichen und politischen Vorteile einer amerikanischen Schirmherrschaft, die die Länder der Europäischen Union zu verlieren fürchten, sondern der Westen wird auch umstandslos mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gleichgesetzt.

Ganz falsch ist diese Gleichsetzung natürlich nicht, dennoch liegt ihr ein völlig verzerrtes Geschichtsbild zugrunde, wenn man diese westlichen Ideale mit der Realität westlicher Politik verwechselt.

Denn all diese Werte hat der Westen zwar stets gerne in seinen Sonntagsreden im Mund geführt, aber nicht unbedingt immer sein tatsächliches Handeln daran orientiert. Ganz im Gegenteil hat er sich insbesondere gerne dann auf sie berufen, wenn es ihm darum ging, seine fragwürdigen militärischen Interventionen – denen meist ganz andere Motive zugrunde lagen – moralisch zu rechtfertigen. Das überhöhte Selbstbild des Westens, und darin liegt eins seiner fundamentalen Probleme, ist immer schon eine Illusion gewesen, es war immer schon eher ein Ausdruck seiner Arroganz als seiner tatsächlichen – moralischen oder praktischen – Überlegenheit über andere politische Systeme und Regionen der Erde. Darum aber kann der Niedergang des Westens nur den überraschen, der dieser Illusion erlegen war.

Man kann daher die betreffenden Kommentatoren trösten: Was untergeht, ist ein Westen, den es so nur in ihrer romantischen Fantasie gegeben hat.

Der Westen hat seine Chancen vertan.
Foto: REUTERS/Brendan McDermid

Ist der Westen nicht selbst schuld an seinem Ende?

Fest steht außerdem: Nach dem Mauerfall 1989 und der Auflösung der Sowjetunion 1991 hatte der Westen selbst alle Karten in der Hand. Die USA waren als einzige Supermacht übergeblieben. Der Westen hatte damit alle Chancen auf dem Planeten Erde. Und er verspielte sie in den folgenden Jahren nach und nach alle.

Niemand anderer jedoch als der Westen selbst ist schuld daran. Nicht Putin, nicht islamistische Terroristen, nicht Kim Jong-un, nicht all die Bösewichter, denen man immer so gerne die Schuld für alles Übel auf der Welt in die Schuhe schiebt. Denn die gab es damals allesamt noch gar nicht, jedenfalls nicht in der Form, in der es sie jetzt gibt. Aber auch die Sowjetunion gab es nicht mehr, die man ja bis dahin für alles verantwortlich machen hatte können.

Es gibt also hier keine Ausrede. Es liegt auf der Hand: Die Kriege, Konflikte und Desaster, wie wir sie zur Zeit überall auf der Welt erleben und die den Westen in Bedrängnis bringen, sind ein langgezogenes Echo auf die Politik, wie sie in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Westen selbst vorangetrieben wurde. Es stellt die Konsequenz einer Politik dar, die, anstatt die historische Stunde zu nutzen, um Frieden auf der Welt zu schaffen, sich in Arroganz, Hochmut und Dummheit verschanzte. Die auch nach dem Ende des Kalten Krieges weiter Krieg spielen wollte und damit die Gewaltspirale immer weiter drehte.

Die "Neue Weltordnung"

Der Westen – personifiziert in US-Präsident George Bush senior – verkündete bekanntlich 1991 eine "Neue Weltordnung". Was darunter zu verstehen war, sah man bald. Die USA verhielten sich nun, als wären sie die Alleinherrscher auf der Erde, führten ihre militärischen Aktionen in der Folge mit mal diesen, mal jenen ihrer Nato-Verbündeten, jedenfalls aber ohne Rücksichtnahme auf die Uno durch – und entmachteten dadurch ausgerechnet jene Organisation, die langfristig für den Weltfrieden am Wichtigsten gewesen wäre. Auf diese Weise haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten die Welt nach und nach ins Chaos gestürzt.

Die Zerschlagung des Pazifismus

Gerade Fischer stünde in diesem Zusammenhang übrigens viel eher eine Haltung der Demut an als diejenige des agitatorischen Belehrers, als den er sich immer noch gerne gibt. Er war eine der Schlüsselfiguren in dieser Entwicklung. Immerhin war er es doch, der als deutscher Außenminister 1999 dem Pazifismus der Grünen und damit mehr oder weniger den pazifistischen Bewegungen überhaupt den Todesstoß versetzte, dadurch dass er alle innerparteilichen Widerstände gegen den Nato-Einsatz in Serbien und dem Kosovo ignorierte.

War die Friedensbewegung einst, zur Zeit des Kalten Krieges, speziell während des Vietnam-Kriegs, und auch noch in den 80er-Jahren, eine starke Bewegung gewesen, so wurde sie nun binnen kurzem pulverisiert. Krieg führen wurde auf einmal wieder etwas Selbstverständliches, und wer das in Frage stellte, wurde als "Träumer" abgetan.

Damit wurden die entscheidenden Weichen gestellt für die Welt, die wir heute um uns haben und die den Westen allerdings gefährdet: Eine Welt voller Kriege, Gewalttaten und Konfliktzonen.

Wenn Fischer nun das Ende des Westens bedauert, dann hat das genauso etwas eigentümlich Peinliches, wie wenn der ehemalige britische Premierminister Tony Blair sich jetzt noch gelegentlich zu Wort meldet – ein anderer westlicher Politiker, der während seiner Amtszeit seinen Teil dazu beigetragen hat, die Welt ins Chaos zu stürzen.

Trump und die westliche Politik

Wie man es anders hätte machen können, hat beispielsweise nach den Anschlägen vom 11. September und dem darauf folgenden Angriff auf Afghanistan der Friedensforscher Johan Galtung unter anderem auch im STANDARD aufgezeigt. Er attestierte der Politik der USA, in einem unreifen kindlichen Stadium steckengeblieben zu sein, in dem man noch nicht den Zusammenhang zwischen dem eigenen Handeln und den Reaktionen anderer darauf zu erkennen imstande ist. Man bedenke, das war lange vor Donald Trumps Präsidentschaft.

Trumps Gebaren, das ja auch schon psychiatrischen Diagnosen unterzogen wurde und vielen, die immer noch ein idealisiertes Bild des Westens vertreten, wie ein vollkommener Bruch anmutet, erscheint unter diesem Gesichtspunkt vielmehr als die logische Fortführung und Steigerung amerikanisch-westlicher Politik, wie es sie durchaus auch schon vor ihm gab.

Der Westen im Essigkrug

Es gibt ein altes Märchen, das eine Karikatur von Menschen liefert, die den Hals nie voll genug bekommen können. Damit gibt es auch ein treffendes Bild vom Verhalten des Westens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ab.

In der Fassung von Ludwig Bechstein nennt sich dieses Märchen "Mann und Frau im Essigkrug". Darin kommen ein Mann und eine Frau vor, die ihr verfallenes Haus "Essigkrug" nennen. Ein goldenes Vöglein schenkt ihnen ein schönes Haus mit Garten. Bald sind sie nicht mehr damit zufrieden. Sie bestellen bei dem Vöglein einen prächtigen Bauernhof mit Äckern und Stallungen und Knechten und Mägden. Auch diesen Wunsch erfüllt das Vöglein. Als nächstes kommt eine Villa in der Stadt. Dann möchten sie Edelleute mit einem Schloss werden, König und Königin, Kaiser und Kaiserin – und schließlich fragen sie das Vöglein, ob es sie nicht gleich in Gott verwandeln könnte.

Daraufhin verschwindet der ganze Zauber, und Mann und Frau sitzen zur Strafe wieder im Essigkrug. Mann und Frau haben ihre Chance gehabt und durch ihre unersättliche Gier alles verspielt.

Ähnlich hat der Westen seine Chance gehabt und durch seine unersättliche Gier alles verspielt. Nach dem Fall der Berliner Mauer hat dem Westen die ganze Welt offen gestanden. Und jetzt sitzt er doch wieder nur da im Essigkrug. (Ortwin Rosner, 18.6.2018)