Moschee in Paris: "Vom Standpunkt der abendländischen Zivilisation aus betrachtet müssen wir, wenn wir überleben wollen, Toleranz üben."

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François (Edgar Selge) in Paris: Die Verfilmung des Houellebecq-Romans "Unterwerfung", der mögliche Auswirkungen einer Islamisierung Frankreichs beschreibt, wurde am 6. Juni in der ARD erstausgestrahlt.

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Leopold Federmair, geb. 1957, ist ein österreichischer Schriftsteller und literarischer Übersetzer. Er lebt und unterrichtet in Japan.

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Als ich in den Achtzigerjahren im 11. Arrondissement von Paris wohnte, ging ich nicht selten in Araberkneipen und -cafés. Die eine war eine Stehbar unweit der Bastille, wo sich zu fortgeschrittener Stunde oft dreißig, vierzig Personen drängten. Vor allem während des Ramadan war sie gestopft voll. Der Besitzer war ein Algerier, der eine blonde Engländerin geheiratet hatte, sein Kompagnon ein rotbärtiger Rifkabyle (Berberstamm in Marokko, Anm.). Das Publikum war gemischt, aber ich habe mich oft mit jungen Arabern unterhalten, die mir sagten, sie tränken ihr Bier mit schlechtem Gewissen. Islamismus war damals kein Thema, über die Religion dieser Leute machte ich mir nicht viele Gedanken. Die beiden Männer hinter der Theke erweckten ohnehin den Eindruck, "Ungläubige" zu sein (worüber ich mir ebenfalls keine Gedanken machte).

In der marokkanischen Kneipe gegenüber von meinem Wohnhaus gab es guten Couscous, und das Café in einer Passage mit zahllosen Tischlereien und Holzlagern – der Faubourg St. Antoine, von dem 1789 die Revolution ausging – betrat ich aus purer Neugier, wenn ich zum Marché d'Aligre einkaufen ging. Im Unterschied zum Nachtlokal saßen dort ausschließlich Männer, die meisten fortgeschrittenen Alters, und wenn ich den Raum betrat, machte sich drückendes Schweigen breit, das hinter meinem Rücken eine geraume Weile anhielt, während ich meinen Kaffee schlürfte. Ich weiß nicht, warum, aber diese gegenseitige Fremdheit hat mich damals irgendwie angezogen. Ich hatte auch den Wunsch, einmal auf dem Landweg über Spanien nach Marokko und vielleicht noch weiter, bis Algerien, zu reisen. In den Neunzigerjahren, nach dem Erstarken der Islamischen Heilsfront und dem – von Frankreich unterstützten – Abbruch der Parlamentswahlen 1992, verflüchtigte sich dieser Wunsch.

Gottergebenheit

Am 7. Jänner 2015, dem Tag, als die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo von zwei schwerbewaffneten Islamisten angegriffen wurde, kam Michel Houellebecqs Buch Unterwerfung auf den Markt. Eine erstaunliche Koinzidenz, wenn man bedenkt, dass es auch im Roman, der in der nahen Zukunft spielt, zu religiös und/oder politisch motivierten Morden kommt und bei den Parlamentswahlen ein Muslim den Sieg erringt. Seit seinem Erstlingsroman Ausweitung der Kampfzone, den ich vor mehr als zwanzig Jahren übersetzte, zeigt sich Houellebecq als ebenso scharfer wie unkonventioneller Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen, die er mit fast positivistischer Genauigkeit verzeichnet, während er gleichzeitig eine "farce grinçante", eine schrille Posse konstruiert, wie der Politologe Gilles Kepel es nannte. Ein Übertreibungskünstler à la Thomas Bernhard, das war und ist Houellebecq.

In einer ersten Stellungnahme sah sich der Autor zur Erklärung gezwungen, sein Buch sei nicht islamophob. Nicht nur im Roman, auch in der Wirklichkeit wächst das Gewicht islamischer Bürger in demokratischen Wahlprozessen kontinuierlich, sodass unter Umständen gemäßigte islamische Bürger an den Hebeln einer laizistisch definierten Macht einer weiteren Spaltung und Radikalisierung der Gesellschaft – Rechtsextreme und Islamisten – vorzuziehen wären. Seit 2016 hat London einen Bürgermeister, der sich zum Islam bekennt. Viele Stadtbewohner scheinen mit seiner Amtsführung bisher zufrieden zu sein; angefeindet und bedroht wird er vor allem von Islamisten. Die Einbindung islamischer Vertreter in die Politik könnte dazu beitragen, den Predigern des Extremismus den Boden zu entziehen.

Houellebecq hat in seinem Zukunftsroman nichts anderes getan, als mehr oder minder wahrscheinliche Entwicklungen aus zeitgenössischen soziologischen Befunden zu extrapolieren. Der Titel lautet im Französischen Soumission: Übersetzung des arabischen Worts "Islam", was auf deutsch so viel wie "Gottergebenheit" bedeutet. Die Wörterbücher geben für soumission erst in zweiter oder dritter Bedeutung "Unterwerfung" an. François, die Hauptfigur des Romans, wendet sich im Verlauf der Handlung dem islamischen Glauben zu. Er "unterwirft" sich, wenn man so will.

Unterwerfung oder Bekehrung

In den seltenen ausländerfeindlichen Blogs, die ein gewisses intellektuelles Niveau erreichen, findet man hin und wieder ein Zitat aus einem Buch Elias Canettis. "Mohammed ist der Prophet des Kampfes und des Krieges", und das Vermächtnis für die Zukunft seiner Religionsgemeinde laute: "Bekämpfung der Ungläubigen, die Ausbreitung nicht so sehr des Glaubens als seiner Machtsphäre, die die Sphäre Allahs ist. Es ist den Kämpfern des Islams zunächst nicht so sehr um Bekehrung als um Unterwerfung der Ungläubigen zu tun." Also Soumission – in der Bedeutung von Krieg und (Selbst-) Zwang. Freilich, dieses Zitat stammt nicht von Canetti, sondern, wie dieser ausdrücklich schreibt, von "einem der besten Kenner des Islams", nämlich Ignaz Goldziher, einem ungarischen Orientalisten, der wie Canetti jüdisch-sephardischer Abstammung war.

Beim späten, schon dem Wahnsinn nahen Nietzsche findet man ähnliche Äußerungen. In seiner Schmähschrift Der Antichrist charakterisiert er das Christentum als "weichlich" und stellt ihm den "virilen" Islam gegenüber, dem er selbstverständlich den Vorzug gibt. Nietzsche war ähnlich provokationsfreudig wie Houellebecq; beide signalisieren den Machismo als Attraktivum dieser Religion auch für angestammte Europäer, die von Feminismus und sexueller Vielfalt die Schnauze voll haben. Bei Canetti folgt in Masse und Macht auf das Kapitel über die Kriegsreligion jenes über "Klagereligionen", zu denen er vor allem das Christentum zählt. Liest man Houellebecqs Bücher als Indikatoren der sozialen Zustände, so kennzeichnen Depressivität und Weichlichkeit das ex-christliche Abendland heute. Die auftretenden Extremismen sind verzweifelte Versuche, diese Phänomene zu überwinden.

Prophet des Kampfes

Canetti, lange Zeit türkischer Staatsbürger, wurde 1905 in Russe am nördlichen Rand des Osmanischen Reichs geboren. In seiner Autobiografie schrieb er: "Mir war immer zumute, als käme ich aus der Türkei ..." Die islamische Welt kannte er aus Kindheits- und Jugendjahren, aber bei seinem pauschalen Urteil über den Islam verließ er sich ganz auf Goldziher, den Zeitgenossen Nietzsches, der in der Tat eine Koryphäe auf seinem Gebiet war. Durchaus nicht unzeitgemäß, sondern im Geist seiner Epoche widmete sich der sprachkundige Gelehrte seinen positivistischen Studien. Seine Schriften strotzen von Zitaten und Detailanalysen, zeugen aber auch von leidenschaftlichem Forschergeist und Liebe zur arabischen Welt, ohne dass er mit der Kriegsreligion sympathisiert hätte.

Was er über Mohammed als Propheten des Kampfes sagt, kann man heute ganz ähnlich aus dem Mund von jungen Jihadisten hören, die ihre martialischen Sprüche gern ins Internet stellen. Goldzihers Studien zeugen freilich auch von der Vielfalt der islamischen Kultur, wenn man sie über lange Zeiträume betrachtet, mit Perioden, in denen Gelehrsamkeit und Toleranz, Poesie und ekstatische Mystik hochgeschätzt wurden. Nietzsche lobte nicht nur die islamische Virilität, sondern auch das ästhetische Raffinement der maurischen Besatzer im mittelalterlichen Spanien.

Gewiss, er hatte sich sein Islambild nach eigenen, "antichristlichen" Bedürfnissen zurechtgeschneidert. Umgekehrt wird man bezweifeln dürfen, dass sich das Christentum stets nur durch Verweichlichung auszeichnete. Kann man es wirklich nur, wie Canetti suggeriert, unter dem Aspekt der Klagemeute sehen? Über die Jahrhunderte hinweg haben sich die katholische Kirche und später auch andere Christengemeinden als Machtinstrument erwiesen, das die Ungläubigen zu unterwerfen strebte und vor Morden – nicht nur an Heiden, auch an Ketzern im eigenen Schoß – nicht zurückscheute. Schließlich haben alle drei Monotheismen eine Wurzel, lokalisierbar in dem, was wir landläufig als "Orient" bezeichnen.

Interpretationsprobleme

"Der Islam ist nicht nur das", sagte Houellebecq im Jänner 2015 mit Bezug auf den mörderischen Anschlag auf Charlie Hebdo. "Der Islam ist eine Religion des Friedens, der Toleranz und der Liebe." Das Attentat war erst drei Wochen her, Bernard Maris, ein Freund Houellebecqs, war dabei ums Leben gekommen. Kein Ruf nach Rache, im Gegenteil. Amedy Coulibaly, der Mörder vom jüdischen Supermarkt, hatte eine ganz andere Sprache geführt. Zu seinen Geiseln meinte er, sie würden das Gesetz doch kennen: Aug' um Aug', Zahn um Zahn. Er schonte sie nicht. Houellebecq selbst hatte fünfzehn Jahre zuvor, in der Zeit, als Plattform erschien, ebenfalls andere Töne gespuckt: "Der Islam ist allerdings die blödeste aller Religionen. Wenn man den Koran liest, ist man am Boden zerstört ..."

Ja, der Koran. Goldziher zufolge sind die Lehren Mohammeds "allesamt aus dem Judentum und Christentum zusammengelesen". Und kriegerische Aufrufe kann man auch in der ihrerseits aus verschiedensten Quellen zusammengewürfelten Bibel finden. Die entscheidende Frage ist heute – und tatsächlich schon seit dem 18. Jahrhundert –, wie man die alten Schriften und Predigten interpretiert und wie man sie anwendet. Alle monotheistischen Religionen haben diesbezüglich eine lange Geschichte aufzuweisen. Für die europäischen Aufklärer war eines der geistigen Probleme, die sie umtrieben, ob und wie Vernunft und Offenbarung, also das Wort Gottes und das Denken der Menschen, übereinstimmen können.

Das Christentum hat sich neuen historischen Gegebenheiten immer wieder angepasst und dabei zuletzt seine Substanz verloren, sodass es in den heutigen westlichen Gesellschaften keine große Rolle mehr spielt (während der Islam in asiatischen und afrikanischen Ländern an Einfluss auf das Leben der Bevölkerung gewonnen hat). Christopher de Bellaigues kürzlich erschienenes Buch Die islamische Aufklärung zeigt anhand von zahlreichen Beispielen, dass ähnliche Prozesse seit dem 19. Jahrhundert auch in der islamischen Welt stattgefunden haben. Deren Ausgang ist ungewiss; es gab Fortschritte und Rückschritte.

Toleranz üben und fordern

Vom Standpunkt der abendländischen Zivilisation aus betrachtet haben wir, wenn wir überleben wollen, langfristig keine andere Möglichkeit, als Toleranz zu üben und Toleranz zu fordern. Nicht von Terroristen, die in der islamischen Bevölkerung – 1,8 Milliarden Gläubige weltweit – trotz allem eine winzige Minderheit bilden, sondern von der großen Mehrzahl, die in Frieden mit anderen zusammenleben wollen, auch mit Andersgläubigen. Das einzig Sinnvolle, was wir tun können, ist die Unterstützung jener Strömungen im Islam, die sich um Aufklärung, Modernisierung und Demokratie bemühen. Terrorismusbekämpfung, ja. Eine kriegerische Konfrontation würde uns jedoch ins Verderben stürzen. Sie wäre auch mit der besten Technologie nicht zu gewinnen.

Als ich am 13. November 2015 Fernsehbilder von den Attentaten in Paris sah, war ich doppelt schockiert. Einmal, wie die meisten, von der Grausamkeit dieser gottergebenen Männer. Aber auch, weil mir das Bataclan, der Konzertsaal im 11. Arrondissement, nicht unvertraut ist, und schließlich, weil ich die Straßenecke, wo eine weitere Schießerei stattgefunden hatte, wiedererkannte: schräg gegenüber von meinem Wohnhaus, auf dem kleinen Platz, den ich von meiner Chambre de bonne im sechsten Stock aus so gut einsehen konnte. Anscheinend war aus dem einfachen marokkanischen Restaurant eine aufgemotzte Kneipe geworden.

Wenige Schritte entfernt, an der Metro-Station Charonne, waren im Oktober 1961 bei einer Demonstration für die algerische Unabhängigkeit neun Demonstranten von der Polizei erschossen worden. Das 11. Arrondissement ist heute gemischt, der Anteil islamischer, vor allem arabischer Bewohner hoch. Ein junger, offenbar ungeschickter Jihadist plante 2015 ein Attentat und nahm zuerst den Bahnhof von Villepinte ins Visier, sah dann davon ab, weil in der Gegend fast nur Araber wohnten. Dasselbe gilt übrigens für das neue Fußballstadion in Saint-Denis, vor dem sich am Tag des Anschlags im Bataclan zwei Selbstmordattentäter in die Luft sprengten.

Die ethnische Zugehörigkeit ist den radikalsten Gotteskriegern egal. Wenn jemand auf der Terrasse einer Kneipe neben Franzosen sitzt, die ihr Feierabendbier trinken, verdient er es auch, hingemetzelt zu werden. Der Islam, schrieb Goldziher vor mehr als hundert Jahren, ist eine streng moralische Religion. Säkulare Vergnügungen haben da wenig Platz.

Japan als Modell?

Ich schreibe diese Zeilen in Japan, einem von derlei Gefahren (noch?) unbedrohten Land. Auf dem Campus der Universität und im Café sehe ich viele kopftuchtragende Frauen, die meisten stammen aus Indonesien, wo 191 Millionen Menschen dem Islam zugehören. Allein die Tatsache, dass so viele islamische Frauen im Ausland studieren, ist bemerkenswert. Darüber hinaus fällt mir ihre farbenfrohe, lockere Kleidung – Jeans und Turnschuhe – auf, die sie von arabischen Frauen unterscheidet. Arabische Gruppen kommen mir hier selten unter. Im Vergleich zu den Indonesiern schließen sie sich viel mehr ab.

Werfe ich von dieser Gegenwart aus einen Blick auf die japanische Geschichte, so muss ich zunächst die jahrhundertelange selbstgewählte Isolierung festhalten, die tatsächlich an die freiwillige Isolation islamisch-arabischer Länder erinnert. Ab 1868 aber, recht plötzlich, die Öffnung für europäische Einflüsse; eine Art verspäteteter Aufklärung auch hier (das Wort "Meiji" ist mit diesem Begriff zu übersetzen). Zwei Religionen koexistieren in Japan problemlos seit vielen Jahrhunderten. Wenn die Rede auf religiöse Bekenntnisse kommt, sage ich manchmal, nur halb zum Spaß, ich fühle mich dem Shintoismus zugehörig.

Vor 14 Jahren habe ich in einem der Hauptschreine Japans geheiratet, und bis heute ist mir diese naturnahe, einfache Religion sympathisch. Der Buddhismus wird weltweit als friedfertige Religion wahrgenommen, aber manche Sekten scheuen vor Gewalt nicht zurück, wie der Anschlag in der U-Bahn von Tokio 1995 beweist. Erinnern muss man an die brutale Gewalt, die in Myanmar von buddhistischer Seite gegen islamische Rohingya verübt wurde.

Letzten Endes ist keine Religion vor solchen Auswüchsen gefeit, und Atheismus macht nicht immun gegen Gewalt. In Japan wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich das Land einem spezifischen Militarismus verschrieb, der Shinto-Glaube für politische Zwecke instrumentalisiert. Damit war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Schluss, Japan hat sich demokratische Strukturen verpasst. Traditionelle Kultur, konservatives Denken, technologischer Fortschritt und äußerliche Toleranz gehen immer wieder seltsame Mischungen ein, die mit europäischen Kategorien nur schwer verstehbar sind. Dass Vergleichbares in den islamischen Ländern und Bevölkerungen geschieht, ist nicht auszuschließen. (Leopold Federmair, 16.6.2018)