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Frauen in Saudi-Arabien unterliegen Verboten, die ihnen ein selbstbestimmtes Leben verwehren. Sie dürfen in vielen Bereichen nicht arbeiten, kein Bankkonto eröffnen, keine Kreditkarte haben.

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Deutsch-irakischer Autor Najem Wali.

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Najem Wali, "Saras Stunde", übersetzt von Markus Lemke, € 23,70 / 352 Seiten, Hanser-Verlag 2018.

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Wer allein zur Welt kommt, vertraut in seinem Leben auf niemanden", sagte die Hebamme bei Saras Geburt. Sara setzte alles durch, was es ihr ermöglichte, sich frei zu bewegen. Sie war nicht geboren, um sich an einen Baum zu binden, sondern war ein Palmschössling, "der alleine für sich im Garten groß zu werden gedachte". Für den Vater war sie das Kind, das er sich gewünscht hatte. Für die Schulbehörde im saudischen Königreich aber war sie "vom Teufel besessen". Saras Stunde, der Roman von Najem Wali, erzählt die Geschichte eines Mädchens, das wusste, was es wollte, und darüber in eine blutige Schlacht mit seinem Onkel geriet.

STANDARD: "Saras Stunde" beginnt mit einem Racheakt. Im Namen ihrer Familie und all der Mädchen, die ihm zum Opfer gefallen sind, ermordet Sara ihren Onkel, den "Künder" und Leiter der Behörde für die Verbreitung von Tugendhaftigkeit und für die Verhinderung von Lastern. Braucht Saudi-Arabien Frauen wie Sara?

Wali: Es ist nicht meine Absicht, saudische Frauen zum Mord aufzurufen. Mein Wunsch ist, dass alle Frauen so stark sind wie Sara, ihren Willen durchzusetzen. Ich kenne solche starken Frauen. In Saudi-Arabien und in anderen arabischen Ländern bin ich ihnen begegnet. Auch wuchs ich selbst in einer Familie starker Frauen auf. Ich hatte 13 Tanten, und ich weiß, wie stark sie alle waren. Sara tötet, weil sie keinen anderen Ausweg sieht. Ihre Tat lässt sich auch als Symbol begreifen. Das schrieb mir eine Leserin aus der Golfregion. Sie verstand den Tötungsakt als einen Übergang. Der Onkel als Symbol der Unterdrückung wird zum Schweigen gebracht.

STANDARD: Sara ist von Geburt an etwas Besonderes. Doch will sie nur ein selbstbestimmtes Leben führen. Ist das in Saudi-Arabien bereits etwas Besonderes?

Wali: Das ist besonders. Frauen in Saudi-Arabien unterliegen Verboten, die ihnen ein selbstbestimmtes Leben verwehren. Sie dürfen in vielen Bereichen nicht arbeiten, kein Bankkonto eröffnen, keine Kreditkarte haben. Um zu verreisen brauchen sie die Genehmigung eines direkten männlichen Verwandten oder des Ehemannes. Und bis zum 40. Lebensjahr müssen sie eine Reisebegleitung haben. Sara ist eine normale Frau. Als sie nach London kommt, kauft sie erst einmal tagelang ein. Für sie ist das Freiheit. Sie will einfach tun, was ihr gefällt.

STANDARD: Der Vater nennt seine Tochter Sara – "die Beglückende". Der Mutter aber macht sie große Angst. Wie kommt es, dass gerade die Frauen, die selbst unter den rigiden Regeln gelitten haben, sie an ihre Töchter weitergeben?

Wali: Das ist so in patriarchalischen Gesellschaften. Die Frauen kennen die Gefahren und haben Angst um ihre Töchter. Denken Sie an die Szene, wie der Vater die Mutter kennenlernte. Er rettete sie, als sie von einem Beduinen bewusstlos geschlagen wurde, weil sie Seide trug. Sie wusste nicht, dass nach der Lehre von al-Wahhab das Tragen von Seide eine Sünde darstellt. Jede Art von Rebellion kann schaden. Darum halten Mütter ihre Töchter an, Regeln zu befolgen. Es klingt paradox: Es geschieht zum Schutz der Töchter.

STANDARD: Wie stark sind all diese unterdrückenden Regeln noch in der Gesellschaft verankert?

Wali: Saudi-Arabien ist ein riesiges Land. Die Ostprovinz, in der mein Roman spielt, ist offener, ebenso Dschidda am Roten Meer. In der Hauptstadt Riad und der Provinz al-Qasim, aus der Saras Onkel stammt, durchdringen die Regeln dagegen das gesamte gesellschaftliche Leben. Al-Qasim besteht aus ödem Wüstenland. Das Leben dort ist hart. Es wundert nicht, dass die meisten der Al-Kaida-Anhänger, die sich um Bin Laden scharten, aus dieser Provinz kamen. Auch al-Wahhab wurde in dieser Gegend im Zentrum Saudi-Arabiens geboren.

STANDARD: Was treibt Saras Onkel als Tugendwächter an? Sexuelle Frustration kann es bei seinen vielen Frauen doch nicht sein.

Wali: Es ist der Wunsch, mächtig zu sein. Männer wie Saras Onkel wuchsen in dieser rigid konservativen Gesellschaft auf. Sie haben den Wahhabismus verinnerlicht, und sie gewinnen Macht durch ihn. Darum wird Saras Onkel immer fanatischer. Der Wahhabismus ist nicht nur eine Auslegung des Koran, der eine bestimmte Lebensweise vorschreibt. Er bildet auch die Ideologie des saudischen Staates. Muhammad ibn Saud schloss Mitte des 18. Jahrhunderts ein Bündnis mit al-Wahhab. Er unterstützte die Verbreitung von dessen Lehre und erhielt im Gegenzug die religiöse Rechtfertigung für seine Expansionsbestrebungen. So konnte der einst kleine Stadtstaat die ganze Arabische Halbinsel unter seine Herrschaft bringen.

STANDARD: Hat dieses Bündnis heute noch diese Bedeutung?

Wali: Die Allianz besteht bis heute. Die wichtigste Funktion der wahhabitischen Gelehrten ist es, die saudische Herrschaft zu legitimieren. Darum erklärt der junge saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman, er wolle sich vom Wahhabismus lösen. Die wahhabitische Ideologie hält am Senioritätsprinzip fest und würde es ihm nicht erlauben, mit 33 Jahren den Thron zu besteigen. Der saudischen Jugend verspricht er alle möglichen Freiheiten. Er hat eine PR-Kampagne für sich gestartet, weil er ihre Unterstützung braucht.

STANDARD: Den Frauen versprach er die Erlaubnis, Auto zu fahren ...

Wali: Ab dem Sommer sollen Frauen Auto fahren dürfen. Aber dazu muss man auch das Kleingedruckte lesen. Die Frauen brauchen einen saudischen Führerschein. Sie müssen die saudische Fahrschule besuchen, und dann wird eine Kommission entscheiden. Wenn man will, dass ein Gesetz scheitert, gründet man eine Kommission. Viele saudische Frauen haben bereits seit langem einen Führerschein. Warum erlaubt man ihnen nicht einfach zu fahren?

STANDARD: Wäre es dennoch denkbar, dass dieser Prinz, falls er auf den Thron kommt, dem Land etwa nach dem Vorbild Spaniens die Freiheit beschert?

Wali: König Juan Carlos brachte Spanien die Demokratie. Er ließ alle politischen Gefangenen frei und führte keinen Krieg. Das ist ein großer Unterschied. Die Jugend in Saudi-Arabien sehnt sich nach Freiheit und Selbstbestimmung. Aber wenn der Prinz es ernst meint, sollte er zuerst den Krieg im Jemen beenden. Außerdem muss er die politischen Gefangenen freilassen. Dann kann er die Demokratisierung in Angriff nehmen und entsprechende Institutionen schaffen. Das ist ein langer Prozess. Demokratie und Freiheit kann man nicht per Dekret verordnen.

STANDARD: "Die anderen kämpfen stellvertretend gegeneinander, und wir hier im Königreich profitieren", lassen Sie Saras Vater sagen. Welche Rolle spielt Saudi-Arabien in den Kriegen des arabischen Raums?

Wali: Die saudische Königsfamilie schlägt Gewinn aus allen diesen Kriegen. Sie führt Stellvertreterkriege für das Großkapital und Großmächte wie die USA oder Großbritannien. Dafür bekommt sie Schutz und kann ihre Macht festigen. Durch ihre Waffenkäufe genießt sie das Schweigen vieler Länder. Der Kronprinz kaufte in Großbritannien Waffen für 16 Milliarden Dollar. Man kann davon ausgehen, dass die im Jemen zum Einsatz kommen. Statt Geld in nützliche Projekte für die Bevölkerung im eigenen Land zu investieren, gibt die Königsfamilie enorme Summen für Rüstung aus. Es gibt auch in Saudi-Arabien Armut. Das konnte ich auf meiner Reise sehen. Gerade in den Ostprovinzen, wo sich 90 Prozent der Ölfelder befinden, wird die schiitische Minderheit massiv unterdrückt.

STANDARD: Kritisch zeigen Sie das Verhalten des Westens, vor allem ab 9/11, als alle Araber zu Terroristen gestempelt wurden ...

Wali: Das Ergebnis von 9/11 war der Irakkrieg. Man begründete ihn mit Al-Kaida. Tatsächlich waren 15 der 19 Attentäter saudische Staatsbürger. Darüber wird nicht gesprochen.

STANDARD: Was erwarten Sie vom Westen? Wie soll er sich gegenüber Saudi-Arabien verhalten?

Wali: Ich wünsche mir ein Umdenken. Innerhalb der letzten vier Jahre stiegen die westlichen Waffenexporte um zehn Prozent. Wenn diese Entwicklung weitergeht, werden wir weiter Kriege, Ungerechtigkeiten und Flüchtlinge haben. Es gibt andere Wege für die Wirtschaft, als nur von der Waffenindustrie zu leben. Das ist mein Appell. Unser Reichtum hat seinen Preis.

STANDARD: Nun ist Ihr Buch ein Roman, der auch märchenhafte Züge aufweist ...

Wali: Ich wuchs mit 1001 Nacht und einer Großmutter auf, die uns immer Wintergeschichten erzählte. Den Zustand der saudischen Gesellschaft, die Unterdrückung der Frauen und die Unterstützung des Terrorismus in einen Erzählstrang zu bringen ist eine Herausforderung. Die Märchenform bot sich an. Ich merkte das beim Schreiben zunächst nicht. Aber jetzt ist es mir bewusst: Sara ist eine Märchenfigur.

STANDARD: Der Roman im Roman trägt den Titel "Das Buch der fünf Sünden" und besteht aus fünf Teilen. Ist "Saras Stunde" der erste Teil einer Romanpentalogie?

Wali: Dieser Titel ist eine Anlehnung an die fünf Säulen des Islam: das Glaubensbekenntnis, das Gebet, das Fasten, soziale Pflichtabgabe und die Pilgerfahrt nach Mekka. Sara erfüllt die erste Säule, allerdings in ihrer Auslegung. Sie glaubt an sich, nicht an einen Herrscher oder einen Gott. Wie die anderen Teile folgen, weiß ich noch nicht. Aber sie werden sicher von starken Frauen erzählen. (Ruth Renée Reif, 16.6.2018)