Robert Newald
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STANDARD: Als Sie die Bilder vom letzten G7-Treffen in Kanada gesehen haben, die Europäer, die da sichtlich ratlos um den sitzenden US-Präsidenten Donald Trump herumstanden und auf ihn einredeten – was haben Sie sich da gedacht?

Kurz: Es bestätigt sich immer mehr, was wir seit geraumer Zeit wissen. Nicht nur ist der amerikanische Präsident unkonventionell, die ganze amerikanische Politik ist unberechenbarer geworden. Wir haben als Europäische Union gleichzeitig Spannungen mit Russland, eine schwierige Situation in der Türkei, Bürgerkrieg und Terror im Süden der Union. Das ist also ein herausforderndes geopolitisches Umfeld. Das bietet auch die Chance, dass die Europäische Union jetzt stärker zusammenrückt und geeinter agiert. Dazu wollen wir während der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft einen Beitrag leisten.

STANDARD: Es beschäftigt viele Bürger, und beunruhigt sie auch, dass sich die Welt gerade auf eine Weise neu ordnet, die für die Europäer nicht gerade angenehm ist. Unser Wohlstandsmodell hat keine Garantie. Sehen Sie das auch so?

"Es besteht auch kein Grund zu Fatalismus."
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Kurz: Definitiv ist das so. Aber es besteht auch kein Grund zu Fatalismus. Wir haben als Europäische Union alle Chancen. Wir müssen es nur schaffen, schlanker, geeinter und fokussierter zu werden. Wenn die EU sich in der Struktur immer mehr aufbläht und immer unfähiger wird, Entscheidungen zu treffen, wenn die Union immer uneiniger agiert, weil die Spannungen innerhalb von Europa immer größer werden, und wenn man sich mit allem und jedem beschäftigt, aber für die großen Fragen keine Lösung findet, dann wird die Zukunft schlecht sein. Aber ich bin Optimist und glaube, dass es auch anders geht.

STANDARD: Es sieht aber so aus, als seien die Europäer auf diese globalen Herausforderungen nicht vorbereitet, von innen her nicht handlungsfähig. Der niederländische Premierminister Mark Rutte hat das diese Woche in einer Rede vor dem Europäischen Parlament eindringlich betont.

Kurz: Seine Rede war sehr gut.

STANDARD: Bei der Debatte mit ihm sagte der Fraktionschef der Liberalen, der frühere belgische Premier Guy Verhofstadt: "Wenn uns morgen jemand angreift, ist es nicht sicher, dass uns jemand verteidigt." Er meinte den Nato-Verbündeten USA. Das klingt dramatisch, was ist Ihre Antwort darauf?

Kurz: Ich teile die Einschätzung zu hundert Prozent. Es war von Beginn der Union an klar, dass es sinnvoll wäre, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzubauen. Dann ist jahrzehntelang nichts passiert. Vielleicht hat die Europäische Union Trump gebraucht, um diesen Schritt zu machen. Um aber auch etwas Positives zu sagen: In den vergangenen Monaten ist bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik so viel geschehen wie seit Jahrzehnten nicht. Ja, wir sind noch lange nicht am Ziel. Wir werden das Ziel auch nur erreichen können, wenn es den Wunsch zur Zusammenarbeit gibt und diese ständigen Spannungen in der Union, dieses aufeinander Herabschauen, diese Entgleisungen in der Tonalität, wenn das endlich weniger wird.

STANDARD: Welche Entgleisungen meinen Sie da, zwischen Politikern oder Regierungen der Länder?

Kurz: Ja sicher, diese Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. Wenn man in Osteuropa den Eindruck hat, ein EU-Mitglied zweiter Klasse zu sein, dann ist das alles andere als positiv. Mir wurde heute im österreichischen Parlament vorgeworfen, dass ich Kontakt zu manchen Regierungskollegen in Ländern der EU pflege. Das wurde als falsch bezeichnet. Da müssen wir doch fragen: "Was soll denn das?" Das ist das Gegenteil von Einigkeit, das ist Spaltung pur.

STANDARD: Wie kommt man davon weg?

Kurz: Die Chance besteht darin, dass die Notwendigkeit noch nie so groß war, gemeinsam voranzukommen. Es gibt heute schon sehr breit ein Bewusstsein, dass – wenn es nicht gelingt, bei der Sicherheit, der Verteidigung, dem Außengrenzschutz stärker zusammenzuarbeiten – dann Sicherheit und Wohlstand auf unserem Kontinent nicht mehr selbstverständlich sein werden.

STANDARD: Es scheint unter den EU-Regierungschefs im Moment aber zwei Lager zu geben. Die einen, die versuchen, das Gemeinsame zu stärken, dazu gehören der Franzose Emmanuel Macron, der Niederländer Mark Rutte, Angela Merkel, auch Xavier Bettel aus Luxemburg. Andere sind Dekonstruktivisten, die wollen zurück zum Nationalstaat, wie Viktor Orbán oder in Italien jetzt Lega-Chef Matteo Salvini. Die sagen im Zweifel stets Nein zu gemeinsamer Politik.

"Die stärkste Unterstützung für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik kam von den Visegrád-Staaten."
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Kurz: Ich halte diese Schubladisierungen für vollkommen verfehlt. Wer solche Schubladisierungen weitertreibt, der spaltet und zerstört die Union. Sie werden doch nicht glauben, dass ein Viktor Orbán oder ein Salvini kompromissfähiger werden, je mehr man von oben auf sie herabschaut. Ich würde das so nicht stehen lassen wollen. Einige der Vorschläge von Macron sind aus Deutschland abgelehnt worden. Die stärkste Unterstützung für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik kam von den Visegrád-Staaten. Also, ich halte diese Schwarz-Weiß-Malerei für schlecht. All jene, die die Welt in gute und schlechte Europäer einteilen, sind Garanten dafür, dass diese Europäische Union auseinanderfällt.

STANDARD: Ich will niemanden herabwürdigen. Aber der Punkt ist doch, dass Orbán oder Salvini eine völlig andere Vorstellung davon haben, was die Union ist oder sein soll, sie setzen ganz auf nationalstaatliche Zusammenarbeit. Salvini etwa hat im EU-Parlament bisher praktisch immer gegen gemeinschaftliche Politik gestimmt, auch wenn es um die Stärkung von Frontex und den Schutz der Außengrenzen ging. Wie soll die EU da weiterkommen?

Kurz: Ich geben zu bedenken, Mark Rutte ist ein Liberaler. Ich stimme mit ihm in mindestens 95 Prozent der Fragestellungen überein. Er hat seine Rede im EU-Parlament unter den Titel gestellt "Weniger ist mehr". So, wie wir uns jetzt unter dem Titel der Subsidiarität für eine Union aussprechen, die sich in weniger Bereichen einmischt, aber fokussierter ist bei den wichtigen Dingen.

STANDARD: Rutte hat Goethe zitiert: "In der Beschränkung zeigt sich der Meister."

Kurz: Eben, und das ist nicht unbedingt das Konzept von Macron. Ich glaube, dass es dieses Konzept von Rutte ist, das sich am Ende des Tages auch durchsetzen wird. Es ist der gemeinsame Nenner, auf den alle zu bringen sein könnten.

STANDARD: Ich versuche herauszufinden, was Sebastian Kurz' Vorstellung vom künftigen Europa ist. Also?

Kurz: Sie haben die Rutte-Rede gehört. Der liberale niederländische Premierminister Mark Rutte ist für mich der stärkste Verbündete für das, wo wir hinwollen.

STANDARD: Seine Prioritäten waren Vervollständigung des Binnenmarktes, Klimaschutz, die EU-Verwaltung schlanker machen, Kompetenzen neu verteilen, die Agrar- und Regionalpolitik der EU radikal überdenken.

Kurz: Ja, davon teile ich vieles. Österreich ist zusammen mit den anderen Nettozahlern Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland der Meinung, dass der Brexit und die anstehende Debatte über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU ein guter Anlass sind, um die Ausgaben der EU kritisch zu hinterfragen. Wir stehen zudem vor einer großen Umstellung von den klassischen europäischen Industriezweigen hin zur Technologie- und Digitalwirtschaft. Die entscheidende Frage für unsere Wirtschaft wird nicht sein, wie wir unsere Transfertöpfe strukturieren. Die entscheidende Frage wird viel eher sein, wie wir heute jene Industrien in Europa ansiedeln können, die die Arbeitsplätze von morgen sichern werden – und hier stehen wir im internationalen Wettbewerb mit den Innovationsführern USA und China. Daher muss es unser gemeinsames Ziel sein, in Europa die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu bieten. Darüber hinaus müssen wir aber vor allem Bürokratie reduzieren, um es Unternehmern wieder leichter zu machen, Arbeitsplätze zu schaffen.

STANDARD: Im Unterschied zu den EU-Skeptikern wie Salvini vertritt Rutte aber auch die Überzeugung, dass es starke EU-Institutionen geben muss, gemeinsame Regeln einzuhalten sind. Gilt das für Sie auch? Ist das nicht ein Problem für die beschworene Einheit?

"Wer glaubt, dass die große Reform der Europäischen Union in allen Bereichen gleichzeitig stattfinden wird, der irrt sich."
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Kurz: Ich habe ja auch nicht behauptet, dass es keine Unterschiede gibt. Aber meine These ist schlicht und ergreifend: Wenn man diese unterschiedlichen Konzepte nicht auf Augenhöhe diskutiert, dann wird es niemals eine Einigung geben können. Inhaltliche Unterschiede kann man im Normalfall wesentlich leichter überwinden, wenn persönliche Beleidigungen oder Herabwürdigungen ganzer Staaten unterbleiben.

STANDARD: Kein EU-Partner darf das Gesicht verlieren, auch wenn er sich noch so radikal äußert?

Kurz: Zum Beispiel. Die Einteilung in Gut und Böse, Gewinner und Verlierer, die ist grundsätzlich schlecht, wenn man gemeinsam etwas erreichen will.

STANDARD: Es stellt sich konkret dennoch die Frage, wer sind die Personen, die die EU weiterbringen? Mit Neinsagen und Quertreiben wird nichts weitergehen. Was die Europäer brauchen würden, ist der Mut eines Helmut Kohl, sagte der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, vor kurzem, beziehungsweise die "engagiert voranschreitende Kraft" eines Macron. Es fehlen der EU die Trägerfiguren. Richtig?

Kurz: Es ist ein Faktum, dass wir am Ende der Legislaturperiode stehen. Der Präsident der EU-Kommission ist nicht incoming, die Kommission nicht voller Kraft und Tatendrang im letzten Jahr ihrer Tätigkeit. Das ist vom Energielevel, von den Gestaltungsmöglichkeiten her in einem Jahr nach den EU-Wahlen 2019 sicher anders, mit neuen Verantwortungsträgern, frisch im Amt.

STANDARD: Man sollte sich nicht mehr allzu viel erwarten bis Sommer 2019?

Kurz: Es ist notwendig, Fortschritte zu erzielen, und ich bin auch optimistisch, dass es in bestimmten Bereichen Fortschritte geben wird. Aber wer glaubt, dass die große Reform der Europäischen Union in allen Bereichen gleichzeitig stattfinden wird, der irrt sich. Das kann es nicht geben.

STANDARD: Es wird also doch nach dem alten Prinzip "Schritt für Schritt weiterkommen" gehen?

Kurz: Die Themenbereiche sind sehr komplex, haben miteinander auch gar nichts unmittelbar zu tun. Ein Beispiel: Eine Lösung beim EU-Außengrenzschutz ist genauso wichtig wie die Veränderung der Struktur der EU-Kommission, indem man die Zahl der Kommissare reduziert oder die Verwaltung schlanker gestaltet, um sie effektiver zu machen. Erfolg in einem dieser Bereiche hat nicht notwendigerweise etwas mit dem anderen zu tun. Wenn das eine nicht gelingt, heißt das noch lange nicht, dass das bei einem anderen Bereich auch so ist.

STANDARD: Was ist Ihre Vision vom künftigen gemeinsamen Europa, wie kann man da hinkommen?

"Diskussion auf Augenhöhe. Ende des Herabschauens auf andere."
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Kurz: Die Vision gibt es. Ich habe die Vision einer Union, die schlanker, geeinter und fokussierter ist. Schlanker bedeutet für mich: Wenn wir die Entscheidungsstrukturen nicht reduzieren, die Zahl der Entscheidungsträger, wenn wir die Art und Weise, wie entschieden wird, nicht verändern, dann werden wir im internationalen Wettbewerb zurückfallen. Das beginnt bei der Zusammenlegung der Parlamentssitze in Straßburg und Brüssel auf einen, damit der Wanderzirkus beendet wird. Das geht weiter über die Reduktion der Zahl der Kommissare, nicht nur aus Sparsamkeitsüberlegungen, sondern weil weniger Kommissare automatisch dazu führen, dass es weniger an Regelungen gibt.

STANDARD: Das klingt nach dem, was Sie so auch auf nationalstaatlicher Ebene tun: Der Staat muss schlanker werden, soll dem Bürger weniger abverlangen, auch weniger geben, weniger Steuern einheben. Auch auf Europaebene?

Kurz: Definitiv. Das ist der erste Teil.

STANDARD: Ihr zweiter Punkt war "geeinter sein". Was meinen Sie damit?

Kurz: Diskussion auf Augenhöhe. Ende des Herabschauens auf andere. Um es gleich konkret zu sagen: Wir dürfen keine Kompromisse bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit machen. Aber in den meisten Bereichen sollten wir doch unterschiedliche Meinungen und Positionen zulassen. Es muss das Prinzip gelten "In Vielfalt geeint" und nicht "In Gleichheit getrennt". Wenn dieser Versuch des ständigen Erziehens anderer, des ständigen Vorgabenmachens bis ins kleinste Detail weitergeht, dann gefährden wir das gemeinsame Europa.

STANDARD: Einwand. Die Rechtspopulisten behaupten gerne, dass die EU die Nationalstaaten abschaffen will, aber es ist halt nicht richtig. Die Staaten beanspruchen im EU-Ministerrat mehr Macht denn je, die Kommission ist schwach. Sehen Sie das nicht?

Kurz: Ich rede auch nicht von verlorengegangenem Einfluss. Ich erlebe aber, dass man als Politiker sogar schon dann angefeindet wird, wenn man mit anderen Regierungschefs aus Ländern der Union auch nur spricht. Wo kommen wir hin in Europa, wenn einem so etwas zum Vorwurf gemacht wird. Dann gibt es nur noch zwei Wege: Man zerschlägt die Union gleich – oder man schreibt den Staaten vor, wen sie wählen dürfen. Dann verabschieden wir uns aber von Rechtsstaat und Demokratie.

STANDARD: Geeinter hieße doch aber auch, dass die Nationalstaaten Kompetenzen an die EU-Ebene abgeben, damit man in der Welt geeint auftreten kann. Wobei soll das geschehen?

Kurz: Das würde ich gerne unter dem Aspekt zusammenfassen, wenn ich sage, die EU muss fokussierter werden. Wir haben inzwischen einen Zustand erreicht, dass mittelständische österreichische Unternehmen sagen, sie hätten Probleme, all diese bürokratischen Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Sie können es nicht mehr stemmen, weil sie einfach überfordert sind. Es kann nicht sein, dass in Europa nur noch Konzerne mit größeren Rechtsabteilungen ordentlich wirtschaften können. Gleichzeitig erleben wir, dass bei großen politischen Fragen kein Fortkommen möglich ist, zumindest nicht in der Geschwindigkeit, wie es nötig wäre.

STANDARD: Bei was zum Beispiel?

Kurz: Beim Außengrenzschutz braucht es dringend eine Lösung. Eine Stärkung von Frontex bis 2027, wie das geplant ist, reicht nicht. Das ist viel zu lange. Es ist wichtig, dass wir unsere Anstrengungen auf solche Dinge fokussieren, in den Mitgliedsstaaten wie auf europäischer Ebene. Der Außengrenzschutz ist übrigens nicht nur so wichtig, weil illegale Migration ein Problem ist. Wenn das nicht gelingt, sind das Prinzip der Niederlassungsfreiheit und das Europa ohne Grenzen nach innen stark gefährdet.

STANDARD: Wenn Frontex um 10.000 Mitarbeiter aufgestockt wird oder gar 20.000, wie manche fordern, dann wird das die weitaus größte Abteilung der EU. Im Europäischen Auswärtigen Dienst arbeiten 5.000 Beamte, zum Vergleich.

Kurz: Aber es ist ein Unterschied, ob man neue Beamtenstellen schafft, die am Schreibtisch neue Regulative schaffen, oder ob Sie Beamte einstellen, die gegen Schlepper kämpfen.

STANDARD: Aber die EU-Skeptiker wollen das eben nicht, die wollen immer weniger EU. Müssten Regierungschefs den Bürgern nicht deutlicher unangenehme Wahrheiten sagen, dass man in neue Aufgaben viel mehr Geld stecken muss?

Kurz: Das sage ich auch in jedem Interview. Subsidiarität. Wie ein Mantra trage ich seit Jahren vor mir her, dass es notwendig ist, in der Zusammenarbeit stärker zu werden in den großen Fragen, dass man sich aber zurücknimmt in den kleinen Fragen.

STANDARD: Das bringt uns wieder zu Rutte, seit 2010 Premierminister, einer der erfahrensten. Der scheint für Sie so etwas wie ein Rolemodel, ein Leitbild zu sein, wenn man das so sagen darf über Regierungschefs.

Kurz: Ja, durchaus. Er ist ein erfahrener, charismatischer Regierungschef, sicherlich einer meiner engsten Vertrauten und Verbündeten.

"Das ständige Fortschreiben von Budgets ist weder für die Nationalstaaten noch für Europa gut."
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STANDARD: Er nannte bei seiner Rede im EU-Parlament sogar eine Zahl von hunderten Milliarden Euro, über die man reden müsse, wenn man das neue Europa der Zukunft gestalten will, und er meinte Einschnitte bei den Förderungen im Agrar- und Regionalbereich, den Kohäsionsfonds. Das Geld sollte zu ganz neuen Aufgaben, in Digitalisierung oder Forschung gesteckt werden. Sehen Sie das auch so?

Kurz: Sicher. Das ständige Fortschreiben von Budgets ist weder für die Nationalstaaten noch für Europa gut. Es kommen neue Aufgaben dazu, und andere muss man kritisch hinterfragen. Die Regionalförderung, so wie sie vor 30 Jahren erfunden wurde, ist vielleicht in dieser Form nicht mehr das zeitgemäße Projekt für das 21. Jahrhundert. Wir haben viele Förderungen, wo allein die Bürokratie einen Gutteil der Förderung frisst, weil es so kompliziert ist, sie abzuholen, und danach evaluierend überprüft werden muss. Gleichzeitig entsteht die Notwendigkeit der Schaffung von digitaler Infrastruktur, wir müssen bei Innovation und Forschung wettbewerbsfähig bleiben, auch bei der Sicherheit gibt es völlig neue Herausforderungen.

STANDARD: Warum reden die meisten Regierungen dennoch vor allem über die angebliche Gefahr durch Migranten und nicht über solche wichtigen Generationenfragen?

Kurz: Es wird deshalb so wenig diskutiert, weil jeder, der nicht sofort zustimmt, wenn es darum geht, mehr nach Brüssel zu überweisen, automatisch als Antieuropäer abgestempelt und kritisiert wird. Ich würde mir sehr eine Debatte darüber wünschen, wofür wir das Geld in Europa ausgeben. Viele versuchen, das unmöglich zu machen, und stellen es so dar, als wäre man ein schlechter Europäer, wenn man nicht gleich bereitwillig sagt, wir überweisen möglichst viel und ohne Diskussion nach Brüssel.

STANDARD: Das muss man konkret machen. Wer sind die Personen, die die Union auf einen neuen, moderneren Weg führen können?

Kurz: Definitiv ein Mark Rutte, aber auch Emmanuel Macron. Ich teile viele seiner Ideen, so wie auch seine Reformbemühungen in Frankreich selbst. Aber man sollte nie vergessen, es wird am Ende immer das Zusammenspiel aller 28 Mitgliedsstaaten brauchen. Es braucht nicht nur die, die in der Idee vorangehen, sondern die Kompromissbereitschaft aller Beteiligten, wenn eine Einigung möglich ist.

STANDARD: Da sind wir bei Österreichs Ratspräsidentschaft. Wo sind Entscheidungen konkret möglich, bei der Migration, bei der Vertiefung der Eurozone, bei der Bankenunion?

Kurz: Ich rechne nicht mit dem großen Fortschritt im Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik im Juni beim EU-Gipfel. Ich glaube, dass das die zentrale Aufgabe bei unserem Vorsitz werden wird, und hoffe sehr, dass es uns gelingt, am 20. September beim EU-Gipfel in Salzburg einen ordentlichen Fortschritt im Bereich des Außengrenzschutzes zu machen. Beim Euro sind wir offen dafür, als Europa einen Währungsfonds einzurichten, ähnlich dem IWF. Ein solcher europäischer Währungsfonds kann auf dem heutigen Europäischen Stabilitätsmechanismus basieren. Jedoch sage ich klar, dass die Verantwortung dafür weiterhin bei den einzahlenden Mitgliedsstaaten zu verbleiben hat. Der Vorschlag der Europäischen Kommission, die Verantwortung hier weg von den Mitgliedsstaaten in die europäischen Institutionen zu verschieben, überzeugt uns daher nicht. Wir lehnen auch jene Vorschläge ab, die nach noch mehr zentralisierten Transferleistungen und kollektiver Risikohaftung in der EU rufen. Solche Entwicklungen würden die Anreize für eigenverantwortliches Wirtschaften reduzieren. Stattdessen brauchen wir Budgetdisziplin und Reformen, um bei einer neuen Bankenkrise besser gerüstet zu sein.

STANDARD: Also wird es in Salzburg konkrete Beschlüsse geben, auch wenn es ein informeller Gipfel ist?

Kurz: Es ist mein Ziel, dass wir dort eine politische Einigung zur Stärkung von Frontex finden, zur Erweiterung des Mandats zustande bringen und so einen großen Schritt in Richtung eines besseren Außengrenzschutzes machen.

STANDARD: Gilt das auch bei den Dublin-Regeln, also beim gemeinsamen Asylrecht et cetera?

Kurz: Die Frage der Verteilung hat die Union in den letzten Jahren beschäftigt. Ich habe immer gesagt, dass das in der Migration nicht die Lösung bringen wird, dass man sich dabei verrennt. Insofern ist mein Ziel nicht, die Gräben noch tiefer werden zu lassen, sondern dieses Thema zu parken und uns darauf zu konzentrieren, worauf es wirklich ankommt.

STANDARD: War das der Grund für die Initiative mit dem deutschen Innenminister Seehofer in Berlin, die zuvor vom italienischen Innenminister Salvini ausging?

Kurz: Das ist unabhängig davon.

STANDARD: Es gab große Aufregung, weil Sie in Berlin von einer "Achse der Willigen" sprachen und viele in Deutschland sofort an die "Achse Rom–Berlin", an die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, an Hitler und Mussolini dachten. Wie konnte das passieren?

Kurz: Ich habe davon gesprochen, eine europäische Achse der Willigen zu schaffen, und habe dabei nicht nur Wien, Berlin und Rom genannt, sondern genauso die Niederlande und Dänemark als mögliche Verbündete. Ich halte das wirklich für absurd, mir das vorzuhalten, nur weil das Wort "Achse" vorkam.

"Ich möchte mir die Zusammenarbeit mit Deutschland und Italien nicht nehmen lassen."
Foto: Robert Newald

STANDARD: Der Begriff "Achse Rom–Berlin" ist historisch eben belastet, wäre da nicht doch mehr Sensibilität angebracht gewesen? Oder nachträglich eine Korrektur?

Kurz: Erstens möchte ich mir die Zusammenarbeit mit Deutschland und Italien nicht nehmen lassen. Und zum Zweiten sage ich ganz ehrlich, weil ich gerade aus Israel komme: Ich lehne jede Form von Antisemitismus oder nationalsozialistischer Terminologie entschieden ab, aber das Wort "Achse" ist nicht aus unserem Sprachgebrauch gestrichen. Wir haben vielmehr ein Riesenproblem mit Antisemitismus in Europa, der durch die Flüchtlingskrise zusätzlich zum bereits bestehenden importiert wurde, es gibt die Situation, dass Juden in Paris oder in Brüssel sich teils nicht mehr sicher fühlen. Das ist eine Schande für Europa. Dagegen sollten wir entschieden vorgehen, statt zu diskutieren, ob es vielleicht problematisch ist, das Wort "Achse" zu verwenden. Das ist eine Auseinandersetzung mit den falschen Themen.

STANDARD: Bush sprach auch von einer Koalition der Willigen im Irak-Krieg 2003.

Kurz: Nur weil George W. Bush von der Achse des Bösen gesprochen hat, soll ich das Wort Achse nicht mehr verwenden?

STANDARD: Welche Prioritäten der EU-Präsidentschaft sind Ihnen noch wichtig?

Kurz: Neben Sicherheit und Außengrenzschutz sind das Wettbewerbsfähigkeit und alles, was mit Digitalisierung zu tun hat. Und schließlich das Thema Westbalkan und Erweiterung.

STANDARD: Was ist beim Westbalkan zu erwarten?

Kurz: Es sollte jedenfalls Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen für Serbien und Montenegro geben. Nach der Einigung im Namensstreit hoffe ich auf einen großen Schritt für Mazedonien, für Nord-Mazedonien. Und wir unterstützen die Idee eines großen einheitlichen Wirtschaftsraums am Balkan, der nicht nur gut wäre für die wirtschaftliche Entwicklung der ganzen Region, sondern einen Beitrag leisten könnte, die ethnischen Spannungen abzubauen. (Thomas Mayer, 15.6.2018)