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Islands Fans werden einmal mehr für Stimmung sorgen.

Foto: REUTERS/Hannibal Hanschke

Seine Zahnarztpraxis hat Heimir Hallgrimsson mittlerweile geschlossen. Als isländischem Teamchef fehlt dem 51-Jährigen einfach die Zeit, seinem erlernten Beruf nachzugehen. Hin und wieder, etwa zweimal im Jahr, behandelt er die eine oder andere Wurzel, um abzuschalten, auf andere Gedanken zu kommen, um in Übung zu bleiben. Unlängst hat er einer Fußballerin aus der Nationalmannschaft das Gebiss repariert, sie hatte einen Unfall. Jetzt schaut sie prächtig aus, kann in jeden Apfel beißen.

Nach der Euro 2016 wurde Hallgrimsson zum Chef befördert, der Schwede Lars Lagerbäck hatte aufgehört. Wobei er schon davor gleichberechtigt war, in Island nimmt man das mit den Hierarchien nicht so streng. Eine Tradition pflegt er nach wie vor. Vor Heimspielen in Reykjavík schaut er im Fanpub vorbei, das ist zehn Minuten vom Stadion entfernt. Per pedes. Er verrät die Aufstellung, erklärt die Taktik. Die offizielle Bekanntgabe folgt später. Aber er weiß, dass keiner im Pub twittert oder sich auf Facebook wichtigmacht. Fußball im rauen Island ist Vertrauenssache.

Mit 348.580 Einwohnern (Stand Dezember 2017) ist die Vulkaninsel im Atlantik das kleinste Land, das je an einer Weltmeisterschaft teilgenommen hat. Spitzenreiter war bisher Trinidad und Tobago mit 1,3 Millionen. Ungefähr 20.000 Menschen kicken in Island aktiv, der Verband wurde 1947 gegründet, der Aufschwung begann vor 15 Jahren. Es gibt rund 150 Indoorhallen. Vierjährige Buben (und Mädchen) werden von ausgebildeten Coaches, die die Uefa-Lizenz besitzen, trainiert. Die nationale Liga umfasst zwölf Vereine, zehn davon sind in und um Reykjavík beheimatet, es ist quasi eine Stadtmeisterschaft, der Zuschauerschnitt beträgt rund 1000. Im Aufgebot für Russland stehen 20 Legionäre.

Das Maximum

Am Samstag wird ab 15 Uhr Landesgeschichte geschrieben, der erste Auftritt bei einer Fußball-WM steht an. Dass ausgerechnet Argentinien der Gegner ist, macht die Sache noch spektakulärer. Bei der allerersten EM-Teilnahme war es der spätere Champion Portugal. Aus Cristiano Ronaldo wird nun Lionel Messi, mehr hat der Sport nicht zu bieten. Gegen Ronaldo gab es ein 1:1. Dass dann in Paris Österreich 2:1 geschlagen und heimgeschickt wurde, muss und soll man nicht extra erwähnen. Der bisherige Höhepunkt war das 2:1 im Achtelfinale gegen England.

Das staatliche Fernsehen muss um die Quoten nicht bangen, der Marktanteil wird bei 100 Prozent liegen. Mindestens 300.000 Bewohner werden daheim vor den Schirmen stehen, sitzen, knien oder liegen, Säuglinge und Greise inklusive. Im Moskauer Spartak-Stadion erscheinen 4500 Schlachtenbummler, sie werden rhythmisch klatschen und "Huh" schreien. 2016 ging der Ruf durch Europa, nun ist die ganze Welt dran.

27 Journalisten aus Island sind akkreditiert, TV und Radio inklusive. Kristinn Pall Teitsson schreibt für die Zeitung Fréttablaðið, die kennt auf der Insel echt jeder. "Machen wir gegen Argentinien einen Punkt, sinkt Island um ein paar Meter." Die Qualifikation wurde als Gruppenerster vor Kroatien beendet. "Trotzdem ist der Erfolg nicht Normalität geworden. Wir packen es immer noch nicht ganz." Kroatien ist erneut ein Gegner, der Vierte im Bunde ist Nigeria. Der Leithammel und Kapitän des Teams heißt Aron Einar Gunnarsson, er trägt Vollbart, schaut grimmig aus, soll aber privat ein Netter sein. Gylfi Sigurdsson von Everton zählt auch zu den Größen.

Die Spielweise der Wikinger funktioniert nach dem Motto: Halte die Dinge einfach, sei robust, organisiert und schnörkellos. Island ist in Sotschi am Schwarzen Meer stationiert, von dort aus wird Russland bereist. Dem Trainerstab gehört Helgi Kolvidsson als Assistent an, er spielte einst bei Austria Lustenau, betreute später die Vorarlberger und Ried, die Welt ist ein Dorf. "Die Spannung steigt", sagte er am Freitag nach dem Abschlusstraining. "Und die Freude ist groß." Messi hat den gravierenden Nachteil, bereits weltberühmt zu sein. Er kann somit nur verlieren.

Keine Überfälle

Hallgrimsson trat zu Mittag vor die Presse, sympathischer wäre kitschig, der Saal war voll. Er gratulierte den Russen zum 5:0 gegen Saudi-Arabien, dankte für die herzliche Aufnahme. Die eigenen Erfolge bezeichnete er "nicht als Wunder. Es ist harte Arbeit. Es geht darum, sich ständig zu verbessern." Natürlich sprach er über Lionel Messi. "Es gibt kein Rezept. Es wäre unfair von mir, einen meiner Spieler auf ihn anzusetzen. Wir müssen das gemeinsam lösen." Warum Island so beliebt ist? "Wir sind nett, freundlich, klein, führen keine Kriege, überfallen niemanden."

Vor dem Stadion steht eine überdimensionale Statue, sie stellt Spartakus, den Anführer des Sklavenaufstandes, dar. Islands Fans werden ihn mit einem "Huh" dekorieren. Hallgrimsson legte noch Wert auf folgende Klarstellung: "Ich werde immer Zahnarzt sein." Ob Messi und Co der Zahn gezogen wird, kann im Vorfeld maximal mit einem sehr vagen "Huh" beantwortet werden. (Christian Hackl aus Moskau; 15.6.2018)

Technische Daten und mögliche Aufstellungen zur Fußball-WM in Russland am Samstag:

Gruppe D – 1. Runde: Argentinien – Island (Moskau, Spartak-Stadion, 15.00 Uhr/live ORF eins, SR Marciniak/POL)

Argentinien: 23 Caballero – 18 Salvio, 17 Otamendi, 16 Rojo, 3 Tagliafico – 14 Mascherano, 5 Biglia – 13 Meza, 10 Messi, 11 Di Maria – 19 Aguero

Trainer: Jorge Sampaoli

Island: 1 Halldorsson – 15 Eyjolfsson, 14 Arnason, 6 R. Sigurdsson, 23 Skulason – 7 Gudmundsson, 10 G. Sigurdsson, 20 Hallfredsson, 8 Bjarnason – 11 Finnbogason, 9 Sigurdarson

Teamchef: Heimir Hallgrimsson

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