Die politischen Folgen der Flüchtlingskrise drohen Europa zu sprengen. Die Europäische Union – das erfolgreichste Modell der Nachkriegszeit – ist in Gefahr. Deutschland, das führende Land Europas, ist mitten in einer Führungskrise. Wenn Merkel fällt, weil die CSU in Panik vor der AfD geraten ist, gewinnen die Spaltungstendenzen in Europa an gewaltiger Dynamik.

Die Flüchtlingskrise wird von der Mehrheit der Europäer als Kontrollverlust empfunden. Als Überwältigung durch fremde Kulturen aus dem Vorderen Orient und Afrika. Wenn es den europäischen politischen Eliten nicht gelingt, den Eindruck von Kontrollfähigkeit zu erzeugen, bekommen die Rechtsextremen und Rechtspopulisten mit ihren Pseudolösungen die Oberhand.

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz spielt hier eine Schlüsselrolle. Er kann die Politik der Spaltung mitmachen, die Rechtsextreme wie Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski schon lang, der italienische Innenminister und starke Mann der neuen Regierung, Matteo Salvini, und CSU-Chef Horst Seehofer in einer irrationalen Frustexplosion verfolgen. Die Frage ist jetzt, knapp vor dem österreichischen EU-Vorsitz, ob Sebastian Kurz sich jetzt wirklich zum Champion der europäischen Europafeinde machen lassen will. Oder ob er sich auf europäische Gemeinsamkeit besinnt.

Die "Achse der Willigen" (Copyright Seehofer, Kurz) besteht großteils aus äußerst fragwürdigen Figuren. Der italienische Innenminister (und heimliche Premier) Matteo Salvini ist ein halber Faschist. Viktor Orbán ein undemokratischer Autokrat. Horst Seehofer ein von Verzweiflung und Ressentiment gegenüber Merkel getriebener Populist.

Auf diese Seite darf sich Österreich, darf sich Kurz nicht schlagen. Sie sind eine Realität, aber ihnen nachzugeben bedeutet erst recht Kontrollverlust. Im STANDARD-Interview hat Kurz jetzt eine interessante These vertreten: Man dürfe auf demokratisch bedenkliche Leute wie Salvini und Orbán nicht "herabschauen", sondern müsse mit ihnen "auf Augenhöhe" diskutieren. Sonst komme es zu keinen Lösungen. Das ist natürlich auch seine Rationalisierung seines Verhältnisses zur FPÖ.

Da ist trotzdem was dran. Nur besteht da die Gefahr, dass sich echte Rechtsextreme nicht einbinden lassen. Die "Zähmung", die "Einbindung", das "Einrahmen" von Rechtsextremen durch Konservative ist letztlich nie geglückt, auch das ist eine historische Erfahrung.

Europa muss die Kontrolle über sich selbst wiedererlangen, und das geht nur mit Zusammenarbeit und aus einer Position der Mitte. Merkels Flüchtlingspolitik ist in massiven Schwierigkeiten, aber das bedeutet nicht, dass die inhumane und demokratiewidrige Lösung – die Leute einfach elend behandeln – funktionieren würde.

Paradoxerweise ist der bisher größte Erfolg bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise von 2015/16 eine Koproduktion von Kurz und Merkel. Kurz hat im März 2016 Mazedonien bewogen, die Grenze zu Griechenland dichtzumachen: "Schließung der Balkanroute". Aber das hätte nur wenige Monate später zu einer Katastrophe in Griechenland geführt, hätte nicht Merkel unmittelbar darauf durch ihr Abkommen mit Erdogan dafür gesorgt, dass der "Nachschub" aus der Türkei großteils zum Erliegen kommt.

Merkel und Kurz haben da nicht bewusst zusammengearbeitet. Aber der Effekt war so, als hätten sie es getan. Warum nicht in den nächsten Wochen und Monaten bewusst zusammenarbeiten? (Hans Rauscher, 15.6.2018)