In Wim Wenders' Verfilmung der Handke-Erzählung "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" herrscht Ratlosigkeit – nicht nur auf und neben dem Platz.

Foto: Wim Wenders Stiftung

LESEN:

Fußball, schrieb George Orwell 1945 im Essay "The Sporting Spirit", sei Krieg ohne Schießerei. Nabokov hingegen, der im Exil in Cambridge als Torhüter wirkte und seine fußballerische Tätigkeit auf den holprigen Slogan "Ich war weniger Hüter eines Fußballtores als Hüter eines Geheimnisses" brachte, wähnte Fußball von der "Aura eines beispiellosen Glanzes umgeben". Seine literarischen Mannschaftskollegen Brecht und Camus sahen es ähnlich. Während der auf dem Diskursfeld stets um Boden- und Lufthoheit bemühte Deutsche seine revolutionären Hoffnungen auf das "klügste und fairste Publikum der Welt" in den "Zementtöpfen" richtete, postulierte der melancholisch veranlagte Franzose und ehemalige Torhüter Camus, er verdanke alles, was er von der Moral des Menschen wisse, dem Fußball.

Aktive Kicker, die heute vornehmlich durch verspielte Haartrachten und kunstvoll gestochene Tattoos auffallen, outen sich dagegen seit jeher nur zögerlich als Leser. So ist etwa bekannt, dass Éric Cantona, der auf dem Feld ab und an Opfer seines zarten Nervenkostüms wurde, in der spielfreien Zeit Montesquieu las. Und Zvonimir Boban, ehemaliger kroatischer Star beim AC Milan, verriet der "Gazzetta dello Sport", dass er Dostojewski quasi mit der Muttermilch eingesogen und Borges "vergöttert" habe. Boban, der es vor Ausbruch des Balkankriegs während des Spiels Dinamo Zagreb gegen Roter Stern Belgrad mit der Niedersäbelung eines Polizisten zu zweifelhaftem Ruhm brachte, ist indes auch ein Beispiel dafür, dass Lesen nicht vor Irrtum schützt. Heute werkt der Mann, der so bereitwillig Auskunft über seine Lektüreerlebnisse gibt, als stellvertretender Generalsekretär der Fifa in Zürich, wo er über die Zustände beim Bau der russischen Stadien lieber schweigt.

FRAUEN:

Wer würde es leugnen, dass die möglichst regelmäßige Verrichtung der ehelichen Pflichten das A und das O eines gesunden Fußballerlebens darstellt? Leider herrscht über den Zeitpunkt der ehelichen Umarmung in den Betreuerstäben der Nationalteams Uneinigkeit.

Kurz vor Anpfiff soll der Auswahlkicker seine Stiefel schnüren und den Text der Nationalhymne memorieren. In der Pause ist er dazu aufgerufen, ohne Ablenkung dem markerschütternden Gebrüll seines Trainers zu lauschen. Die Tage vor einem entscheidenden Match soll der Kicker schon deshalb Enthaltsamkeit üben, um dem Gegner mit einer gewissen "produktiven" Übellaunigkeit zu begegnen. Ermattete Lenden schießen deutlich weniger Tore. Die Spielerfrauen werden häufig mit sanfter Gewalt von einer Betretung des Teamcamps abgehalten. Fälle von Schmuggel der Ehepartnerin – temporäres Einschleusen zum Zweck des Einnetzens! – gelten hingegen als verbürgt.

VEREIN:

Was für ein trügerisches Schauspiel: Das WM-Turnier beginnt, und augenblicklich füllen sich die Fanzonen in den Metropolen der Teilnehmerländer. Der Ball kollert ins gegnerische Tor, schon liegen einander Wildfremde schluchzend in den Armen. Doch in Wahrheit ist es völlig gleichgültig, ob das Land seine Buhmänner tadelt oder ob es sie mit Nachsicht behandelt. Mit dem Ende jeder Weltmeisterschaft weicht die nationale Sektlaune verlässlich dem Kater der Vernunft. Alltagstechniken beginnen zu greifen. Die Einsicht in das globale Wesen unseres Zusammenlebens ersetzt im Nu die nationalstaatliche Wallung. Nichts ist älter als das Panini-Heft vom vergangenen Jahr.

Als ungleich beständiger als jeder noch so zarte Anflug von Patriotismus erweist sich – in den Jahren unseres neoliberalen Missvergnügens – der Konzernfußball. Nur in den Fanshops der von Scheichs, Oligarchen und Großinvestoren geführten Megaklubs wird die Neuordnung des Parteilichkeitsprinzips sichtbar.

Klubs wie Barcelona oder Manchester United (oder City) beackern die Körper ihrer Klienten, indem sie mit Konsumangeboten locken, die vom Strampelanzug bis zur Firmungsuhr (im Klubdesign) reichen. Indem die Fans von der Früh bis zum Abend die Welt nur noch in den Farben ihrer Lieblingsmannschaft sehen, verschmilzt ihr Leben symbolisch mit dem des Vereins. Als beider Trauungsbeamter aber fungiert der Konsum. Vor dessen Allmacht erlischt die Pflicht, sich patriotischer zu geben, als die Ballesterei der eigenen Nationalmannschaft es in Wahrheit verdient.

STIL:

Obwohl sie ansonsten gern den heiligen Geist der freien Marktwirtschaft beschwört, knebelt die Fifa WM-Gastgeberländer gern mit Verträgen, die ganz auf die wettbewerbsregulierenden Bedürfnisse des Schweizer Vereins und dessen Sponsoren ausgerichtet sind. Nur die Trikotdesigner scheinen bei ihren Kreationen über weitgehende Fifa-Autonomie zu verfügen. Während sich auf den Rängen das als Klingone, Alpöhi oder Zar verkleidete Publikum gebärdet, als sei es dem Karneval entlaufen, stellt auch die Arbeitskleidung der Kicker auf dem Platz zuweilen einen beträchtlichen Verstoß gegen die Kleiderordnung dar.

So wirkt etwa das Auswärtstrikot Südkoreas laut den Jungs von "11 Freunde", als wäre ein Panzer durch die französischen Nationalfarben und anschließend über ein weißes Dress gefahren. Auch das grünstichige Trikot Nigerias, das auf dem Bildschirm bestimmt flimmern wird, strahlt in etwa die Ruhe einer vielspurigen Verkehrskreuzung in Lagos aus. Besonders schlimm haben es die Schweizer erwischt. Ihre Montur sieht aus, wie wenn eine außer Rand und Band geratene künstliche Intelligenz eine topografische Karte des Urkontinents Pangäa auf ein beim Waschen geschrumpftes rotes Bettlaken gebrannt hätte. Zum Trost: Man wird es nur drei Spiele lang ertragen müssen.

HELDEN:

Manchen Kickern ist es gegeben, nur für die vergleichsweise kurze Dauer eines WM-Turniers über sich hinauszuwachsen. Sturmgötter wie Roger Milla (Kamerun) übertölpelten die gegnerischen Abwehrreihen, nur um daraufhin im Vereinsumfeld schmählich zu verkümmern. Das Schicksal dieser WM-Helden – häufig genug Torschützenkönige – erzählt vom Ausnahmezustand der Ekstase. Mit der Alltagstauglichkeit dieser euphorischen Trance ist es nicht weit her.

Und so gedenken wir in stiller Ergriffenheit des großen Argentiniers Mario Kempes, der sein Land nicht nur zum Weltmeistertitel schoss, sondern wenig später im herrlichen Naturstadion der Hohen Warte für den First Vienna FC 1894 auf Torjagd ging. Er soll dort mit beharrlicher Geduld die mit der Kürzung des Grases betrauten Schafe gezählt haben. (Stefan Gmünder, Ronald Pohl, 17.6.2018)