Zuletzt ist eine intensive Debatte über die Bedeutung der 68er-Revolution und ihr Vermächtnis geführt worden. Dabei ist viel aufgerollt und analysiert worden. Trotzdem blieb eine gewisse Verwirrung und Unschärfe. Beides geht auf ein statisches Verständnis der postrevolutionären Entwicklung zurück.

Viele Revolutionen haben zum Ziel, einerseits einen "neuen Menschen" zu schaffen und andererseits die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal zu verändern. Letzteres gelingt immer, Ersteres de facto nie. Die 68er-Revolution hat kurzfristig in gewissen Aspekten "neue Menschen" geschaffen (der Hippie unterscheidet sich signifikant vom "Untertan" Heinrich Manns), aber in erster Linie war es eine unglaublich kraftvolle Bewegung zur Befreiung des Individuums aus extrem autoritären, starren Hierarchien, deren Vertreter (die Kriegsgeneration) in den Augen der Revolutionäre moralisch fragwürdig waren.

Die Befreiung des Individuums sollte in der homogenen europäischen Gesellschaft der 60er- und 70er-Jahre nach den Plänen der 68er-Revolutionäre zu einer "Demokratisierung aller Lebensbereiche" (Copyright: Bruno Kreisky) und zu partizipativen, selbstverwalteten Organisationsformen in Gesellschaft und Wirtschaft führen, in denen der "neue Mensch" sein Leben organisiert.

Das befreite Individuum verlangte im Laufe der Jahre aber immer stärker nach individueller Autonomie und nicht nach basisdemokratischer Organisation. Im Universitätsbereich hielt sich die partizipative Organisation am längsten, in der Wirtschaft wurde schnell klar, dass dieser Ansatz völlig ignoriert, dass Gewinnstreben und Leistungsanreize für den "alten" Menschen wichtig geblieben sind. Die Revolution traf somit auf den "alten" Menschen, und damit entstand mittelfristig etwas Neues.

Im Bereich der Politik erlaubte die Homogenität der Nachkriegsgesellschaft, die in den 70er-Jahren noch intakt war, eine Kombination von liberaler Gesellschaftspolitik (Strafrecht) mit einem starken Ausbau eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates. Diese extreme gesellschaftliche Ausnahmesituation einer schon etwas freieren Gesellschaft, die aber wirtschaftlich noch reguliert und abgeschottet war, wird von vielen Österreichern heute als Standard oder Normalzustand empfunden.

Das durch die 68er befreite Individuum begann, die Autonomie im Sinne der Verwirklichung der eigenen Lebensziele zu nutzen, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Die Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft als Folge der 68er-Revolution passten genau zu dieser globalen Entwicklung von Deregulierung und marktwirtschaftlichen Reformen. Es ist undenkbar, dass eine österreichische Wirtschaft mit dem Regulierungswerk der 60er-Jahre und mit den autoritären Strukturen in den Unternehmen der 60er-Jahre erfolgreich an der ab 1990 beginnenden Globalisierung hätte teilnehmen können.

Die neue "prekäre" Selbstständigkeit, die flachen Hierarchien mit Projektverantwortlichkeit statt vertikaler Befehlsketten, das alles sind direkte Folgen der Befreiung durch die 68er-Revolution und Grundbedingungen für wirtschaftlichen Erfolg im Zeitalter des Liberalismus (als "Neoliberalismus" verunglimpft) und der Globalisierung. Kann sich irgendjemand vorstellen, dass die Ordinarien der Universität, die von den 68ern so bekämpft wurden, in der Lage wären, im heute üblichen internationalen Wettbewerb um Drittmittel zu bestehen?

Die liberale Gesellschaft, die dem Individuum Lebenschancen und Verantwortung gegeben hat, die früher durch Kirche, Staat, Gewerkschaft, Partei verwaltet wurden, ist nicht der konservative Backlash, der die Errungenschaften von 68 ausgehöhlt hat. Im Gegenteil, das ist das bleibende Erbe der 68er. Der konservative Backlash wird vielmehr durch die neuen Feinde dieser freien Gesellschaft, die von "illiberaler" Demokratie träumen, repräsentiert. (Kurt Kratena, 18.6.2018)