In der Mollardgasse 14 im sechsten Wiener Bezirk wurden auf einer Brache zwei Wohnungen unter freiem Himmel aufgeschlagen. Sie kennen keine Wände. Die Möblierung? Je ein Tisch mit Stuhl, ein Feldbett, eine notdürftige Küche mit Kühlschrank, Kochplatte und etwas Geschirr. Wasserkanister. Scheinwerfer.

Nein, hier wurde niemand delogiert, und es soll auch nicht auf den schwierigen Wiener Wohnungsmarkt hingewiesen werden. Claudia Bosses Performances stellen grundsätzlichere Fragen an ihre Schauplätze und Zuschauer.

In diesem Fall präsentiert die Künstlerin ihren Alltag und beobachtet jenen der Stadt rundherum. Die Langzeitperformance 168 Stunden ist auf sieben Tage ausgelegt, während derer Bosse und die befreundete Architektin Bettina Vismann in den spiegelgleichen Kleinwohnungen leben. Öffentlich. "Wenn ich auf Hausfassaden schaue, frage ich mich oft, wie der Alltag dahinter aussieht", sagt die Regisseurin und Mitbegründerin von Theatercombinat. Zwei Jahre hat sie getüftelt, das Tanzquartier als Partner gefunden. Diesmal ist die Arbeit für Bosse nicht mit den Vorbereitungen getan. Diesmal steht sie selbst auf der Bühne.

Foto: Eva Würdinger

Los ging es am Samstagabend. Um Punkt 17.30 Uhr taucht Bosse im weißen Kleid auf, macht erst einmal Kaffee in der Espressokanne. In den Kaffee gibt sie einen Klecks Schlag. Zwar gibt es hier Strom, sie schlägt ihn aber mit der Hand. Dann wird ein dickes Buch ausgepackt, es folgt die Tastatur fürs Macbook. Der Duft des Kaffees weht bis zu den fürs Publikum aufgebauten Podesten.

Die beiden setzen sich, blättern, schauen stumm vor sich hin und auf die Straße. Minuten später weht der Wind ein Blatt vom Tisch, und der Kaffeeduft ist verflogen. Ist das Banalität oder Authentizität? Ist das schon ein Leerlauf der Performance? Oder noch Alltag? Zum Wesen des Alltags gehört ja seine Unauffälligkeit. Er huldigt nicht dem Spektakel, sondern dient dem möglichst reibungslosen Funktionieren. "Routinierte Abläufe praktizieren wir alle", sagt Bosse. Dass jene änderbar sind, sei uns aber oft nicht bewusst. Das findet sie beunruhigend. Sie will hier drin auch eigene Gewohnheiten hinterfragen.

Weniger ist mehr

Bosse und Vismann sind keine Entertainerinnen. Da bei ihnen also oft recht wenig passiert, rücken auch die anderen Zuschauer und die Straße ins Blickfeld des Beobachters: Nebenan übt jemand Klavier, in einem der Nachbarhäuser fiebert ein Fußballfan bei der Weltmeisterschaft mit. Kommen auffallend viele Menschen mit Koffern vorbei? Vermietet hier vielleicht jemand bei Airbnb?

Man kann in Gedanken auch zu früheren Arbeiten der 49-Jährigen abschweifen. 2016 hat sie an genau dieser Stelle Ideal Paradise gezeigt, von wo aus Performer in den Stadtraum zogen und auf eine "städtische Wirklichkeit" trafen. Explosion der Stille hieß 2017 ein Monument aus 100 Personen, die eine Stunde lang am Praterstern standen. Bosses Vision von Theater ist eine Begegnungszone. Sie will körperliches Denken und Erfahrung. Fünf Sinne und ein Hirn schließen einander nicht aus.

Bosse und Vismann bei der "poetischen Begegnung" mit Objekten am Sonntag. Die Objekte sind inspiriert von Arbeiten des deutschen Künstlers Franz Erhard Walther.
Foto: Eva Würdinger

Es geht in ihren Arbeiten stets um Öffentlichkeit, Gemeinschaft, die Möglichkeiten des Zusammenlebens und der Nutzung des uns umgebenden Raumes. Auch um Individuen und deren Handlungsfähigkeit. Denn "jede Handlung, die man anders tut, ändert etwas", sagt Bosse. Gerade auch in einer Welt, in der man den Eindruck habe, Eingriffsmöglichkeiten würden immer weniger, und man sei ihr ausgeliefert.

Das klassische Theater, von dem sie kommt, hat sie lange hinter sich gelassen. Denn hier draußen im urbanen Raum, im nichtkünstlerischen Kontext, müsse man sich mit fremden Ansichten und Haltungen konfrontieren. Das reizt sie. "Kunst darf zwar nicht funktionalisiert werden, aber sie muss eingreifen", sagt Bosse. Die Bühne als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung – man denkt an die alten Griechen, deren Texte sie früher oft befragte, und auch an Brechts analytische Herangehensweise.

Claudia Bosse (vorn) und Bettina Vismann bei der täglichen um 17 Uhr stattfindenden "poetischen Begegnung". Immer um 21 Uhr nach Sonnenuntergang projizieren die beiden zudem Texte über den Tag auf Hauswände.
Foto: Eva Würdinger

Es ist Sonntagabend. Heute hat Bosse über Paare nachgedacht, weil viele Paare vorbeigekommen sind. Bis 14 Uhr hat sie aber nur ein vergnügtes gesehen, die anderen wirkten deprimiert. Um 16.57 Uhr gehen die beiden Frauen zeitgleich auf die mobilen Klos. Die umstehenden Zuschauer sind live dabei. Ist das absolute Hingabe an die Sache? Ans Publikum? Im Gast des Geschehens stellt sich nach kurzer Zeit eine Art Ruhe ein. Viele kommen ins Gespräch. Etwas hier funktioniert. (Michael Wurmitzer, 19.6.2018)