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Nach einer Niederlage ist der Trainer oft sehr alleine. Joachim Löw wünschte das, zumindest was die Medien betrifft, am Montag auch zu bleiben.

Foto: REUTERS/HARTMANN

Sind die Hosen voll, lässt es sich wunderbar blumig riechen und reden. Mexikos Teamchef Juan Carlos Osorio, ein Kolumbianer, saß im Pressekonferenzsaal der Luschniki Stadions, draußen tanzten und sangen die Fans (Fiesta!), als er das 1:0 gegen den amtierenden Weltmeister Deutschland Revue passieren ließ. Lateinamerikanische Journalisten beginnen ihre Fragen im Erfolgsfall mit ausführlichen Glückwünschen und Hymnen an den jeweiligen Trainer. Das ist nett, kostet aber Zeit und zeugt nicht gerade von Distanz. Andersrum: Ein Deutscher hätte zu Joachim Löw als Einleitung nie und nimmer gesagt: "Herr Löw, die Niederlage tut mir wahnsinnig leid, Kopf hoch, es wird schon wieder."

Osorio nahm die Ovationen entgegen, grüßte seine Familie, seine Freunde in Kolumbien, den lieben Gott im Himmel, ganz Mexiko auf der Erde. "Und die vielen Skeptiker." Der 57-Jährige erzählte über einen Matchplan, der vor sechs Monaten erstellt worden sei. "Wir wollten schnell von außen kommen. Wir haben uns mental vorbereitet, sind dauernd dieses Match im Geiste durchgegangen." Er habe seinen Fußballern jeglichen Druck genommen. "Sie sollen einfach spielen. Ein Sieg gebührt immer ihnen, an einer Niederlage bin immer ich schuld. Wir sind gegen Deutschland mit der Liebe zum Sieg angetreten, nicht mit der Angst vor der Niederlage."

Höhepunkt

Der Liebste ist logischerweise Torschütze Hirving Lozano gewesen, der 22-jährige Profi von Eindhoven hat seinen Marktwert vervielfacht, was ihm vorerst wurscht sein dürfte. "Das ist das beste Spiel, das beste Tor meines Lebens gewesen." Er setzt seine Karriere trotzdem fort.

Der Tag danach. Die Deutschen hatten keinen Pressetermin angesetzt, die Gedemütigten liefen im Teamquartier in Watutinki, das liegt eine knappe Autostunde von Moskau entfernt, aus. Frust hat in den Beinen nämlich nichts verloren. Sie versteckten sich hinter einem Birkenwäldchen.

Die Nation beherrscht zumindest im Fußball die Kunst der Selbstzerfleischung, es wird nichts schöngeredet. Aus einer gewissen Stärke heraus, denn die vier Weltmeistertitel blieben trotz des 0:1 gegen Mexiko bestehen. Sie motzten sich direkt an, die Innenverteidiger Jérôme Boateng und Mats Hummels sprachen Klartext. Tenor: So geht es nicht, unwürdig, behäbig, uninspiriert, ideenlos, fahrig, viel zu viele Löcher zwischen Defensive und Offensive.

Auch Deutschland hat Ex-Internationale, die ihren Senf beitragen. Paul Breitner ist ein Klassiker: "Wir haben keine Problemlöser. Es plätschert alles vor sich hin. Es war deprimierend zu sehen, wie hilflos unsere Mannschaft war." Oder Lothar Matthäus: "Das 0:1 war noch gnädig." Zwar kein Ex-Internationaler, aber doch ein renommierter Mentalcoach, nämlich Matthias Herzog, stellte folgenden Befund aus: "Der Druck als Weltmeister, das Ziel Titelverteidigung anzugehen, scheint einige zu hemmen, Selbstvertrauen und Nervenstärke fehlen." Den Arrivierten warf er Sattheit vor: "Läuft es nicht, stellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit ein. Sie war ja schon Weltmeister." Bei Löw ortete er eine leichte Sturheit.

Ahnung

Irgendwas muss jedenfalls schiefgelaufen sein. Österreichs 2:1-Sieg vom 2. Juni in Klagenfurt ist spätestens seit dem 17. Juni relativiert. Und das fast jenseitige 2:1 bei der Generalprobe gegen Saudi-Arabien ließ Schlimmes ahnen. Löw wird natürlich nicht infrage gestellt, zu groß sind seine Verdienste. Obwohl seine Antworten in Russland kaum zufriedenstellend ausfallen.

Das Gerüst wankt, die Säulen von 2014 bröckeln. Toni Kroos wirkt überspielt, Sami Khedira macht Fehler wie ein Schulbub, Thomas Müller ist nur bei Interviews witzig. Mesut Özil setzt überhaupt keine Akzente, das dürfte sogar Tayyip Erdogan auffallen. Ein Linksverteidiger müsste wohl geboren oder eingebürgert werden, Stürmer wie Timo Werner oder Mario Gomez scheinen vor allem für Leipzig und Stuttgart geeignet zu sein. Löw sagte im Luschniki: "Wir haben zu viele Ballverluste, nützen nicht die Breite des Raumes. Wir spielen in die Füße, statt in die Tiefe." Er sagte aber auch, dass Deutschland sicher das Achtelfinaler erreichen werde. "Wir werfen nichts über den Haufen, wir zeigen die richtige Reaktion."

Als Lozano in der 35. Minute in Moskau getroffen hatte, registrierten Seismologen im fernen Mexiko ein "künstliches" Grummeln. "Ein Erdbeben der Freude", so die Wissenschafter. Sollten Löws Mannen am Samstag in Sotschi die Schweden nicht schlagen, wird im fernen Deutschland gegrummelt. Echt, nicht künstlich. (Christian Hackl aus Moskau, 18.6. 2018)