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Der Fels im Kollektiv: Arcade-Fire-Sänger Win Butler.

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Multiinstrumentalistin und zweite Stimme: Régine Chassagne.

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Kanadische Winter sind hart. Da braucht man gutes Schuhwerk. Win Butler macht es sich leicht: Er trägt seine Stiefel einfach das ganze Jahr über. Dazu einen Hut, das Haar meist schön abgerissen. Mit seiner bis zu zehnköpfigen Band Arcade Fire tourt Butler gerade wieder um die Welt. Am Montag spielte man in der Wiener Stadthalle. Zu neunt. Und die riesige Diskokugel, die sich an der Decke dreht, deutet es schon an: Diese Band ist nicht mehr das, als was sie sich 2002 in Montréal, Québec, gegründet hat. Sie ist mehr.

Die ersten beiden Alben Funeral (2004) und Neon Bible (2007) standen unter dem Eindruck zahlreicher Todesfälle, die sich im familiären Umfeld des Ehepaars Win Butler und Régine Chassagne zugetragen hatten. Traurig, zornig, aber hinten hinaus mutmachend spielten sich die Multiinstrumentalisten mit ihrem Artrock im Zeichen der amerikanisch-europäischen Kulturvermischung in die Herzen der damals musikalisch ausgehungerten Indie-Gemeinde.

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Mit jedem weiteren Album bewegte man sich weg vom kalten Winter hin zu einem Indian Summer, der sich 2017 auf Everything Now mit 70er-Jahre-Disko Bahn brach. Warum? Einmal will jeder ins Licht. Und die Botschaft von Liebe, Freundschaft, Familie und Zusammenhalt, die bei Arcade-Fire-Songs in Fußball-Chant-ähnliche Fangesänge mündet, verbreitet sich noch eindringlicher, wenn man auf die unbeschwerte Seite des Lebens wechselt.

Die "Kanzler der Melodien"

Neu ist auch die überbordende Ironie, mit der die Truppe hausieren geht. Die Stadthallenbühne betritt die Band über einen Seiteneingang mitten durch die Zuschauerreihen. Ein Boxpromoter kündigt sie an als "Könige des Pop", "Fürsten des Indie" und "Kanzler der Melodien". Lichtkegel auf der Bühne simulieren die Ringseile. Dann legen sie los. Technik trifft auf Urgewalt, Verspieltheit auf schnelle Wirkung. Verlieren verboten, Angst ist sowieso keine Option. Das lehrt uns diese Band mit jeder Geste.

Die Musiker wechseln fliegend ihre Instrumente: Xylofon, Piano, Trommeln, Tamburin, Violine, diverse Tasten- und Saitengeräte, ja sogar Flaschen werden bespielt. Nachdem mit der Abba-Gedächtnisnummer Everything Now das Feld kollektiv vermessen wurde, tritt zu Electric Blue Régine Chassagne in den Vordergrund.

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Ihr Gesang hielt in früheren Jahren live nicht immer stand, heute ist das anders. Im Glitzerkostüm tanzt sie, befreit von jeder fixen Choreografie, wie es ihr in den Sinn kommt. Später setzt sie sich ans Schlagzeug. Bei 21 gespielten Songs darf das fast jeder einmal.

Wenn da ein paar verhatschte Takte dabei sind, macht das nichts. Arcade Fire sagen: Wir sind nicht allein, und ihr seid nicht allein. Zusammen schaffen wir das. Nach besinnlichen Momenten mit den gehauchten Liedern Neon Bible, Crown of Love und dem Erstlingswerk Neighborhood #1 (Tunnels) wird zu Reflector noch einmal der Publikumsjoker gezogen: Chassagne spaziert mitten durch die nicht ganz volle Halle zu einem Bühnen-Außenposten, um von dort aus zu singen. Butler wird ihr das, nachdem man von Fanchören zur Zugabe zurückgerufen wurde, gleichtun.

Zum Schluss gibt's die Pathos-Hymne Wake Up. Dafür streute der Band wenige Jahre vor seinem Tod sogar David Bowie Rosen. "Passt auf eure Kinder auf und habt keine Angst voreinander, auch nicht vor Migranten", sagt Butler und geht. So soll es sein. Amen. (Stefan Weiss, 19.6.2018)