Die WM ist ein Publikumserfolg, wenn auch nicht bei jedem Wetter und in der Fanzone von Jekaterinburg.

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Moskau – Juan hat in fünf Jahren 80.000 Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt, er war in 37 Ländern. Nun parkt er in der Nähe des Kremls. Da er Argentinier ist, hat er den blau-weiß gestreiften Dress an. Juan hat Zelt, Sackerln und Taschen dabei, all das auf einem Rad zu verstauen ist eine logistische Herausforderung. Irgendwann hat er seinen Job in der Fabrik gekündigt, stellte sich die Sinnfrage, radelte raus in die Welt. Seine Botschaft ist viel Frieden und ein bisserl Fußball, er schnorrt sich durch den Globus, zeigt Fotos her. Er schätzt Lionel Messi. Eine Bank in Peru hat extra Kredite für die Reise nach Russland gewährt – zu hohen Zinsen, Fußball ist eben ein Geschäft. Das Angebot wurde von hunderten Personen angenommen, andere verschulden sich für Tiefkühltruhen. Um nicht der Romantik zu verfallen: Eine Fußball-WM zieht in erste Linie Menschen an, die es sich leisten können.

Die Moskauer Fanzone der Fifa liegt auf dem Campus der staatlichen Universität. Unweit des Luschniki-Stadions, auf einer Anhöhe. Die Party ist streng organisiert, der Spaß beginnt halblustig mit Sicherheitskontrollen, endet ernst vor Vidiwalls oder im überdimensionalen Shop des Weltverbandes. In dem werden lizenzierte Waren angeboten, die teuer sind, die Lebensqualität aber nicht nachhaltig heben. In diesem Laden könnte eine Daviscuppartie der Euro-Afrika-Zone eins ausgetragen werden. 40.000 sind an der 1755 gegründeten Uni im Zuckerbäckerstil inskribiert, Michail Gorbatschow war Absolvent. Circa 40.000 passen auch in den nach oben hin offenen Käfig der Fifa. Momentan ist Prüfungsstress, der Notenschnitt könnte dank der WM sinken. Denn der Geist braucht Stille.

Lebensversicherung

Die Fifa ist ein lauter Zirkus, der nicht um Einlass betteln muss. Ihn bekommt nur der zu sehen, der bereit ist, den Gewinn zu maximieren, den roten Teppich auszurollen. Wladimir Putin war dazu absolut bereit. Er wollte und will Russland präsentieren, seine Macht weiter stärken. Motto: Schaut her, was wir alles können, wozu wir imstande sind. Er hat erkannt, dass der Fußball die perfekte Manege bietet. Das Spiel ist omnipräsent und absolut nicht umzubringen. Obwohl einiges dafür getan wird. Aber Artisten und Jongleure wie Ronaldo sind die Lebensversicherung. Fifa-Präsident Gianni Infantino hatte ja vor Anpfiff angekündigt: "Es wird die beste WM aller Zeiten." Möglicherweise irrt er nicht. Die Organisation passt, alles ist supersauber, die Armut wurde weggeräumt, die Stadien sind voll, die Stimmung ist mehr als passabel. Okay, mexikanische Fans haben sich daneben benommen, sie riefen beim 1:0 gegen Deutschland vor Abstößen "Puto", das bedeutet "Schwuchtel". Die Fifa untersucht, dem mexikanischen Verband wird eine zu verschmerzende Geldstrafe nicht erspart bleiben. Hooligans sind bisher Fehlanzeige, die russischen Sicherheitsdienste dürften gute Arbeit geleistet haben. Man soll den Tag nicht vor dem Abend des Finales am 15. Juli loben.

Verlagerung

Die Gewalt hat sich in die sozialen Medien verlagert. Spaniens Tormann David de Gea, ein Meister seines Faches, wurde nach seinem kapitalen Fehler beim 3:3 gegen Ronaldo und Portugal verhöhnt, beleidigt, sogar bedroht. "Ich habe doch niemanden getötet", sagte er leise und ersuchte um mehr Respekt. Die Fifa ist kein Hort der Meinungsvielfalt, sie produziert die TV-Bilder selbst, hat eigene Journalisten angestellt, jedes Team wird von einem Reporter begleitet. Man kann ihnen auf Twitter folgen. Es besteht aber, dies zur Ehre, kein Zwang.

Ein erstes sportliches Fazit wäre voreilig, die Favoriten sind jedenfalls recht durchwachsen gestartet. Den besten und kreativsten Fußball zeigte trotz des Unentschiedens Spanien, eher kleine Nationen wie Island oder die Schweiz trotzten mit Leidenschaft Argentinien und Brasilien. Panama und Saudi-Arabien werden sogar das Match um Platz drei verpassen, der afrikanische Fußball kommt nicht in die Spur. Titelverteidiger Deutschland bescherte Europa die erste Niederlage, was charmant ist. Mehr als 50 Prozent der Tore sind nach Standards gefallen, der Videoassistent ist kein totaler Depp, die meisten Entscheidungen waren nachvollziehbar. Nur Brasilien beschwerte sich mündlich und schriftlich.

Ob Juan 2022 nach Katar radelt, weiß er nicht. Die WM in der Wüste hält er für absolut verrückt. "Ich glaube, es geht ums Geld." (Christian Hackl aus Moskau, 19.6.2018)