Tunis – Eine vom tunesischen Präsidenten Beji Caid Essebsi eingesetzte Kommission hat umfassende gesellschaftliche Reformen in dem nordafrikanischen Land vorgeschlagen. Zu den am Mittwoch von der Kommission zu den individuellen Freiheiten und zur Gleichstellung (Colibe) vorgelegten Vorschlägen gehören in der arabischen Welt umstrittene Themen wie eine Entkriminalisierung von Homosexualität und eine Gleichstellung der Geschlechter beim Erbrecht.

Essebsi hatte die Kommission vor einem Jahr eingesetzt und damit beauftragt, Reformen auszuarbeiten, mit denen das juristische Arsenal in Einklang mit der Verfassung von 2014 gebracht werden soll. Die Ergebnisse stellten die Experten jetzt vor. Ziel sei "das Wohlergehen jedes Einzelnen", sagte die Colibe-Präsidentin und Rechtsanwältin Bochra Belhaj Hmida.

Frauen erben nur halb so viel wie Männer

Bei den umstrittensten Themen schlagen die Experten jeweils mehrere Alternativen einer Neuregelung vor, etwa bei der Gleichstellung im Erbrecht. Derzeit erben Frauen in Tunesien nur halb so viel wie Männer gleichen Verwandtschaftsgrades.

Ein sensibles Thema ist auch die bisher vorgesehene Mindestfrist, die verwitwete oder geschiedene Frauen vor einer Wiederverheiratung abwarten müssen. Die Colibe empfiehlt, diese Frist in einer ersten Etappe zumindest in solchen Fällen abzuschaffen, in denen die Ehe nicht vollzogen wurde, oder wenn der Ehemann verschwunden ist. Auch eine Abschaffung der Todesstrafe schlagen die Experten vor.

Bündnis von 30 NGOs

Die Kommission sprach sich zudem dafür aus, die Strafbarkeit von Homosexualität abzuschaffen. Auch die bisher bei Festnahmen mutmaßlicher Homosexueller vorgenommenen Rektaluntersuchungen soll es nicht mehr geben.

Ein Bündnis von rund 30 Nichtregierungsorganisationen begrüßte die Vorschläge und forderte Präsident Essebsi auf, diese umzusetzen. Ein Bündnis religiöser Verbände kritisierte die Vorschläge dagegen als "intellektuellen Terrorismus", der die tunesische Identität auslöschen und die Bevölkerung "ohne Religion, ohne Identität und ohne jede Orientierung" zurücklassen wolle. Beobachter fürchten, dass die Reformen ein Opfer des langwierigen Gesetzgebungsverfahrens werden könnten. (APA, AFP, 20.6.2018)