Streitbarer Philosoph, Autor, Ex-Priester: Adolf Holl (88).

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Harald Klauhs, "Bilanz eines rebellischen Lebens". € 28,- / 368 Seiten. Residenz, Salzburg/Wien 2018

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Das neue Buch über Adolf Holl verzichtet zu Recht auf den Untertitel "Biografie", denn der wäre eine Untertreibung. "Bilanz eines rebellischen Lebens" trifft die Sache genau, denn Holl ist ein Rebell: gegen die Kirche, gegen akademische Konventionen, vor allem aber auch gegen den Zeitgeist (den er oft diagnostizierte).

Und das Buch ist tatsächlich eine Bilanz: nicht nur seines Lebens und seiner geistigen Entwicklung, sondern vor allem seines Werkes. Harald Klauhs hat die über 30 Bücher Holls genau gelesen und ihre Substanz bilanziert – nicht als langweilig referierte Zusammenfassung, sondern so, dass man Holl quasi bei der Genese seines Denkens zusieht.

Das Aufregende an diesem Buch ist nämlich sein Strukturprinzip. Da Adolf Holl sich mit so gut wie allen Stadien der religiösen und kulturellen Entwicklung der Menschheit auseinandergesetzt hat, lässt Harald Klauhs ihn diese Stadien auch in seiner biografischen Entwicklung durchlaufen. Und da Holl gerne aus seinen eigenen biografischen Erfahrungen heraus argumentiert, geht das hervorragend auf und ergibt eine faszinierende Erzählung, wie sie nur wenigen Biografen gelingt.

Umfangreiche Tagebücher

Das liegt zum einen daran, dass Klauhs die umfangreichen Tagebücher Holls einsehen und erstmals zitieren konnte. Zum anderen daran, dass er genau gebaute Sätze zu schreiben vermag, die mit Wortwitz und Anspielungen ebenso arbeiten wie mit Assonanzen und zentrale Einsichten auf kleinstem Raum kondensieren.

Außerdem ist das Buch keineswegs nur für Fans von Adolf Holl und für Betroffene oder Voyeure des Katholizismus interessant (beides dürfte sich oft decken), sondern es macht die Biografie von Holl zum Instrument, die Zusammenhänge zwischen katholischer Mentalität, Gesellschaft und Politik seit dem Ständestaat in Österreich auszuleuchten.

Angesichts der Tatsache, dass es kaum literarische und intellektuelle Auseinandersetzungen mit dem katholischen Milieu in Österreich gibt, wie sie Heinrich Böll oder Carl Amery für den deutschen Milieukatholizismus geleistet haben, ist das umso bedeutsamer. Außerdem blendet Klauhs auch durchgehend die Parameter der Weltpolitik ein (die für Holl, wie man erstaunt feststellt, kaum eine Rolle spielen).

Sexuelle Praxis

Scharfsichtig macht Klauhs Holls veränderte Einstellung zur Sexualität (anders gesagt: den späten Beginn seiner sexuellen Praxis) verantwortlich für die Änderung seines Denkens.

Aus der Beschreibung der Priesterausbildung wird das autoritäre Gehäuse sichtbar, das Priestern (aber in leicht abgemilderter Form allen Katholiken und erst recht den Katholikinnen) durch Sexualverbote bis in den Körper hineinkriecht und so nachhaltiger wirkt als jede Ideologie. Die Rituale und Sakramente der katholischen Kirche sind autoritär kontaminiert und haben oft toxische Wirkung.

Und wenn man liest, wie spät Holl Messkelch, Soutane und ein großes schwarzes Kreuz aus seinem Schlafzimmer entfernte, schaudert einen. Holls produktiver Ausweg: Er hat den Zusammenhang zwischen Religion und Sexualität zu einem Zentrum seiner Analysen gemacht.

Schätze und Leichen

Harald Klauhs hat sich in zahlreiche Gewährsleute Holls eingelesen, macht aber auch viele interessante neue Fenster auf, etwa in der glänzenden Passage, in der er die lateinische Liturgie mit den Performances von Hugo Ball vergleicht. Und er zeigt überzeugend, dass das Werk Holls klarmacht, "welche Schätze und Leichen in unserer Kultur vergraben sind".

Oder zumindest in unserer Religion. Denn ein Erkenntnisdefizit scheint Holl noch immer mit religiösen Menschen zu teilen: Sie glauben, Religion sei das Wichtigste auf der Welt. Die Kunst hingegen unterschätzt Holl und traut ihr keinen lebensverändernden Impuls zu.

Irritierend an dem Buch ist nur ein formales Detail: Die Autoren der Zitate sind im Text oft nicht genannt, also muss man die Anmerkungen lesen; sie stehen jeweils am Kapitelende. Und dort findet man ab der zweiten Zitierung nur einen Kurztitel. Wer sich den Autor dazu nicht gemerkt hat, kann sich blöd suchen. So wird man als Leser nur selten düpiert.

Produktive Ambivalenz

Ist man wieder im Haupttext, so ist man von neuem fasziniert von Holls Widersprüchen (er hat verstanden, dass Jesus kein Kultpriestertum wollte, ist aber fast magisch auf die lateinische Messe und den Akt der Wandlung fixiert) und der produktiven Ambivalenz gegenüber dem Christentum seiner Sozialisation.

Vielleicht geht es ihm ja wie dem Lehrer in Horváths Jugend ohne Gott, dem er einen aufschlussreichen Essay gewidmet hat (der leider in der Bibliografie des Buches nicht aufscheint): Er muss sich betrinken, um den naiv religiösen Satz "Gott wird schon helfen" hinschreiben können. Doch er findet keine Alternative zum so oft missbrauchten und vieldeutigen Wort Gott.

Das macht Adolf Holl viel interessanter als beamtete Religionsdiener, inbrünstige Glaubenstrompeter, unerschütterliche Religionsroutiniers oder Religionslose. Auch wenn er das vormoderne Widerstandspotenzial des Christentums gegen den Turbokapitalismus vielleicht unterschätzt. Eine von vielen Fragen, die diese brillante Bilanz von Harald Klauhs aufgibt. (Cornelius Hell, Album, 23.6.2018)