Durch das Leben wie durch eine Geschichte gehen: die gefeierte US-Autorin Elif Batuman.

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Elif Batuman, "Die Idiotin". Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper. € 24,70 / 480 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018

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Bei Dostojewski ist Der Idiot eigentlich der Einzige, der die Menschen, ihre Sorgen und Gefährdungen wirklich sieht – und ihnen am Ende doch nicht helfen kann. Die Hauptfigur in Elif Batumans Debütroman Die Idiotin ist nicht adelig. Selin ist die Tochter türkischer Immigranten, die nach Harvard geht, um dort Literatur zu studieren. Sie möchte Schriftstellerin werden, auch wenn sie nicht genau weiß, wie. Es ist das Jahr 1995 – und E-Mails ein noch sehr junges Medium: "Ich begriff nicht, wie die E-Mail-Adresse eine Adresse sein konnte oder wofür sie stand. 'Was sollen wir mit dem Ding machen, uns aufhängen?', fragte ich und hielt das Ethernetkabel hoch."

Wenn es auch nicht die Herkunft ist, so gibt es doch etwas, das "die Idiotin" Selin zur Schwester im Geiste des "Idioten" Fürst Myschkin macht: ihr neugieriger, naiver und doch so verständiger Blick auf die Welt. Ein junges Mädchen, nach amerikanischem Recht noch nicht einmal volljährig, das versucht, ein "Leben frei von Faulheit, Feigheit und Angepasstheit" zu führen.

Zwei unterschiedliche Mädchen

Über beinahe 500 Seiten nimmt Batuman uns mit auf den Weg durch Selins erstes Studienjahr. Sie lernt die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Zimmergenossinnen kennen, wundert sich über ihre Dozenten ("So etwas sollte man ernst nehmen?"), belegt ein Seminar namens "Konstruierte Welten", hofft, in ihrem Hauptfach Linguistik zu erfahren, wie Sprache funktioniert – und trifft im Russisch-Kurs auf die aus Serbien stammende Svetlana, deren Vater Psychoanalytiker ist und die sich selbst und ihr Umfeld in einer Tour analysiert.

Die zwei so unterschiedlichen Mädchen fühlen sich sofort zueinander hingezogen: "Schon jetzt verglichen wir, um zu sehen, wessen Vorgehensweise besser war. Aber es war weniger ein Wettkampf als ein Experiment, weil keine von uns sich hätte anders verhalten können, und jede betrachtete die andere mit einer Bewunderung, die untrennbar mit Mitleid verbunden war."

Schwindel und Sehnsucht

Die zweite einschneidende Bekanntschaft macht Selin ebenfalls im Russisch-Kurs: den Ungarn Ivan. Gelesen wird im Kurs die Erzählung Nina in Sibirien, in der eine gewisse Nina nach Sibirien reist, um ihren Geliebten Iwan zu suchen, der sich mit einer rätselhaften Nachricht ("Wenn Du diesen Brief liest, werde ich in Sibirien sein") verabschiedet hat.

Die neuartige Technik der E-Mail führt schließlich dazu, dass auch Selin ihrem mysteriösen Studienkollegen Ivan eine Nachricht schickt: Sie tippt, "nur um zu sehen, was passieren würde", seinen Nachnamen in das Empfängerfeld einer E-Mail – und wie "von Zauberhand erschienen die Mailadresse und der ganze Name".

Es beginnt ein mal mehr, mal weniger reger Austausch von Nachrichten, und immer mehr verheddern sich die beiden in ihren Versuchen, sich nahezukommen und gleichzeitig auf Abstand zu halten, in einem vergeblichen Kampf um Verstehen und Nähe: "Wie kann Schwindel die Sehnsucht nach dem Fall sein statt die Angst vor ihm? Warum springt man dann nicht einfach? Ich verstehe nicht, warum Du mir diese Sachen geschrieben hast. Und ich möchte Dich gerne verstehen."

Kultur näherbringen

Um Ivan nahe zu sein, um seine Welt kennenzulernen, reist Selin nach Ungarn – Ivan hat ihr einen Platz in einem Programm eines Freundes vermittelt, das der ungarischen Dorfbevölkerung die englische Sprache und die US-amerikanische Kultur näherbringen will. Selins Engagement im ehrenamtlichen Zweisprachenunterricht in Boston war zuvor krachend gescheitert: "Ich habe einen Typen, der statt: 'Das Papier ist weiß', nur sagt: 'Papel iss blonk.'"

In Ungarn freundet Selin sich nun, so wie Ivan es ihr geraten hat, mit allen möglichen Menschen in den Dörfern an, ihre Berichte von diesen Begegnungen sind faszinierende, oft unfassbar komische Menschenporträts.

Ivan selbst kommt sie zwar in einigen (teils unter widrigsten Umständen vor einer Flugzeugtoilette geführten) Gesprächen näher, am Ende schaffen die beiden es aber nicht, den Sprung aus der Fiktion ihrer Sätze und Metaphern heraus zu tun. Die analytisch geschulte Svetlana hat es nicht anders kommen sehen: "Es konnte nicht so weitergehen wie vorher. Es musste sich zu etwas anderem entwickeln – zu Sex, zu irgendwas. Aber aus irgendeinem Grund hat es das nicht."

Klug gebaut

So locker und dabei gleichzeitig so geistreich und witzig der Tonfall ist, in dem Selin erzählt, so klug gebaut sind doch die Querbezüge im Roman, der weit mehr ist als nur eine Ansammlung anekdotischer Erlebnisberichte. Selin lernt nicht nur in ihren Seminaren etwas über "konstruierte Welten", darüber, wie Sprache Realität schafft, es ist auch genau dieses Spannungsfeld, das ihr Leben bestimmt: Das Fasziniertsein von Narration und Sprache, das sie zwar in die unglückliche Liebe zu Ivan führt – ihr aber auch die Stärke gibt, daraus ihre eigene Erzählung zu schaffen.

"Ich glaube immer noch, dass jeder durch sein eigenes Leben wie durch eine Geschichte geht." Enttäuscht hält Selin am Ende fest: "Ich hatte überhaupt nichts gelernt." Dabei lernt man in diesem großartigen Roman so einiges – über das Leben, die Liebe, das Schreiben. (Andrea Heinz, Album, 24.6.2018)