Bozen – Die letzten Tage im Leben Ötzis boten fraglos Stoff für einen Thriller – nur über dessen Handlung sind sich Experten nach wie vor nicht einig. Die 1991 entdeckte Gletschermumie wies nicht nur Spuren eines Kampfes auf, sondern auch eine vermutlich tödliche Pfeilwunde. Weniger klar ist, was dem Tod vor etwa 5.250 Jahren vorausging.

Schon früh wurde angenommen, dass der jungsteinzeitliche Mann vor Angreifern auf das 3.210 Meter hoch gelegene Tisenjoch geflohen sei. Später wurden im Mageninhalt Spuren einer ausgiebigen Mahlzeit gefunden, die Ötzi kurz vor seinem Tod zu sich genommen hatte – was nicht ganz mit dem Szenario einer wilden Hetzjagd vereinbar scheint.

Neue Erkenntnisse

Nun berichtet ein Forscherteam um die Südtiroler Archäologin Ursula Wierer, dass Ötzi wohl doch auf der Flucht war, und zwar schon seit einiger Zeit. Als Indiz nimmt sie den Zustand der Steinwerkzeuge, die bei der Gletschermumie gefunden wurden. Die hätten nämlich einer Nachbearbeitung bzw. Ergänzung bedurft – doch dazu hatte Ötzi offenbar keine Gelegenheit.

Laut der neuen Studie soll Ötzi seine Werkzeuge vor allem für das Schneiden von Pflanzen eingesetzt haben – unter anderem kieselsäurehaltige Gräser wie urzeitliches Getreide.
Foto: Wierer et al

Das Südtiroler Archäologiemuseum führt in Zusammenhang mit der im Fachmagazin "Plos One" publizierten Studie einen Dolch mit sehr kurzer Klinge und abgebrochener Spitze sowie zwei Pfeilspitzen an. In Ötzis Gürteltasche fanden sich ein Kratzer und ein Bohrer, beide stark abgearbeitet, sowie ein kleiner Feuersteinabschlag und der weltweit einzigartige Retoucheur zum Feuersteinbearbeiten. Ötzi – laut der Studie übrigens ein Rechtshänder – wäre also sehr wohl in der Lage gewesen, mit seinem Retoucheur die Werkzeuge nachzuschärfen. Offensichtlich hatte er aber seit geraumer Zeit vor seinem Tod keinen Zugang zu neuem Rohmaterial mehr.

Hintergrund

Auch die Herkunft des Feuersteins von Ötzis Artefakten konnte anhand geologischer Vergleiche erstmals im Detail dokumentiert und topografisch verortet werden, berichten die Forscher. Demnach stammt das Material für fünf der sechs Werkzeuge von der Trienter Plattform, welche ein weites Gebiet zwischen Trentino und Veneto umfasst. Die Herkunft einer der Pfeilspitzen konnte sogar auf den Nonsberg (Trentino) eingegrenzt werden.

Der Feuerstein des Dolches hingegen stammte laut den Forschern aus dem Abhang zwischen der Trienter Plattform und dem Lombardischen Becken, was dem heutigen westlichen Trentino und der östlichen Lombardei entspricht. Daraus lässt sich schließen, dass Ötzis Gemeinschaft Handelsbeziehungen mit unterschiedlichen und zum Teil recht weit entfernten Gebieten pflegte. (red, APA, 22. 6. 2018)