Der Präsident der europäischen Sozialdemokraten, Sergej Stanischew, warb noch vor zwei Jahren für andere Antworten in Sachen Migration. Heute klingen die Genossen gleich wie die Konservativen.

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Europas etablierte Linke ist vom Aussterben bedroht. Innerhalb von weniger als zwei Jahren erlitten die sozialdemokratischen Parteien in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Italien historische Verluste. Auf einem Kontinent, der lange durch den demokratischen Wettbewerb zwischen Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien geprägt war, könnte der Zusammenbruch der Linken weitreichende Folgen haben, die über Parteieninteressen hinausgehen.

Dem Niedergang der Linken liegen zahlreiche Faktoren zugrunde wie etwa die Auflösung der traditionellen Arbeiterklasse. Doch einer der wichtigsten Gründe ist so trostlos wie simpel: Die Wähler sind zunehmend gegen Einwanderung und trauen der Linken nicht zu, sie zu begrenzen.

Angesichts des anhaltenden Zustroms von Flüchtlingen und Migranten, vor allem aus dem Nahen Osten und Afrika, haben die europäischen Wähler in letzter Zeit eine Reihe von Wahlen in Volksabstimmungen über Einwanderung verwandelt. Rechtspopulistische Bewegungen nutzten die Ängste der Wähler aus der Arbeiterschicht gekonnt aus, indem sie sie davon überzeugten, dass die traditionellen Arbeiterparteien den praktisch ungehinderten Zustrom an Einwanderern ermöglichen würden.

Nach einem Wahlkampf, der sich auf die vermeintliche "Bedrohung" der "christlichen Werte" durch muslimische Einwanderer konzentrierte, errang der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im April einen Erdrutschsieg. Italiens neue, gegen das Establishment gerichtete Regierung schaffte es aufgrund der Beliebtheit der einwanderungsfeindlichen Lega Nord an die Macht, deren Chef Matteo Salvini mittlerweile Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident ist.

Als die Rechtspopulisten begannen, politisch an Boden zu gewinnen, hofften die Mitte-links-Parteien in Europa, die Herausforderung durch Einsatz ihrer traditionellen Stärken zu meistern. Um eine unbeabsichtigte Stärkung des rechten Narrativs zu vermeiden, versuchten die Mitte-links-Wahlkämpfer die öffentliche Debatte in ihre ideologische Komfortzone zu verschieben: Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit. Die SPD gründete ihren gesamten Wahlkampf des Jahres 2017 auf dem Slogan "Zeit für mehr Gerechtigkeit".

Positionen ändern

Doch eine schmerzliche Niederlage nach der anderen brachte die Mitte-links-Parteien zu einer dramatischen Erkenntnis: Wähler, die sich in erster Linie wegen der Zuwanderung sorgen, sind nicht mit Forderungen nach Gerechtigkeit zu gewinnen, so gerechtfertigt diese auch sein mögen. Aus diesem Grund haben die Mitte-links-Parteien Europas einen Kurswechsel eingeleitet, im Rahmen dessen Sozialdemokraten in mehreren Schlüsselländern lange gehegte Positionen im Bereich Migration änderten.

In Deutschland ist die Koalitionsregierung (SPD, CDU und CSU) in einen erbitterten Kampf um die Einwanderung verstrickt, der das Überleben der Koalition bedroht. Während die SPD eine europäische Lösung anstrebt und die Schließung der deutschen Grenzen ablehnt, forderte Parteivorsitzende Andrea Nahles beschleunigte Asylverfahren, die es den Behörden ermöglichen würden, Asylanträge aus sicheren Drittstaaten innerhalb einer Woche zum Abschluss zu bringen. Letzten Monat brach Nahles die Debatte in der SPD vom Zaun, als sie – im Stile der rechten Rhetorik – erklärte, Deutschland "kann nicht alle aufnehmen".

Einige Mitglieder der SPD-Führung und in der Parteijugend zeigten sich empört. Doch Nahles bekräftigte ihre Haltung, und in aller Öffentlichkeit hieß sie den von einer Gruppe unabhängiger Beobachter verfassten kritischen Bericht über die Wahlniederlage im letzten Jahr gut. In diesem Bericht wurde "das Fehlen einer schlüssigen sozialdemokratischen Position" in Migrationsfragen als eine der strukturellen Schwächen der Partei genannt.

Noch deutlicher vollzog die SPÖ ihre Richtungsänderung zum Thema Zuwanderung. Die Parteiführung präsentierte ein heuer noch offiziell abzusegnendes neues Parteiprogramm, in dem die Position der Partei als "integrationsfreundlich" im Gegensatz zu migrationsfreundlich neu definiert wird. Obwohl man sich im Parteiprogramm zu den "humanitären Verpflichtungen" des Landes bekennt, wird darin auch ein "funktionierender Schutz" der EU-Außengrenzen gefordert.

Die dänischen Sozialdemokraten sind schon einen Schritt voraus: In Vorbereitung auf die Wahlen im nächsten Jahr haben sie ein neues Positionspapier zum Thema Zuwanderung unter dem Titel "Gerecht und realistisch" verabschiedet. Durch die Errichtung von "Aufnahmezentren" außerhalb Europas, wo über Asylanträge entschieden werden soll, so heißt es in dem Papier, könne der Zustrom von Migranten nach Dänemark reduziert werden.

Das ist auch größtenteils die Haltung der schwedischen Sozialdemokraten in ihrem Versuch, einen Umgang mit der starken Unterstützung für die rechtsextreme Antizuwanderungspartei Schwedendemokraten zu finden. Ministerpräsident Stefan Löfven, der sich im September der Wiederwahl stellt, bezeichnete die traditionell offene Zuwanderungspolitik seines Landes kürzlich als "nicht tragbar". Die von ihm vorgeschlagene Strategie ("Sichere Migrationspolitik für eine neue Zeit") würde die Zahl der in Schweden zugelassenen Flüchtlinge halbieren und verhindern, dass abgelehnte Asylbewerber soziale Unterstützung erhalten – eine Position, die migrationsfreundliche Gruppen kritisieren.

Diese Kritik unterstreicht eine zentrale Herausforderung. Auf der einen Seite ist die Richtungsänderung der Sozialdemokraten im Bereich Zuwanderung eine notwendige Reaktion auf die Forderungen der Wähler. Bestrebungen zur Begrenzung oder Bewältigung der Migration beruhen nicht unbedingt auf Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit. Der Schlüssel liegt darin, sicherzustellen, dass die politischen Antworten moralisch akzeptabel bleiben.

Selbstschädigend?

Gleichzeitig allerdings könnte sich eine zu drastische Haltungsänderung für die strauchelnden Mitte-links-Parteien als selbstbeschädigend erweisen. Klarerweise ist es nicht möglich, die plump nativistischen Rezepte der radikalen Rechten zu kopieren. Das wäre nicht nur wirtschaftlich kontraproduktiv, sondern würde auch progressiven Werten widersprechen und daher kosmopolitische Unterstützer entfremden.

Vielmehr sollten Europas Mitte-links-Parteien ein Gleichgewicht zwischen nationaler und internationaler Solidarität herstellen und dazu eine auf drei Säulen beruhende Strategie konzipieren, die eine wirksame Begrenzung der Zuwanderung, einen Schwerpunkt auf Integration und humanitäre Bestrebungen zur Linderung unvorstellbaren menschlichen Leids umfasst. Ein derartiger Ansatz würde auf Brandrhetorik verzichten und stattdessen echte, zukunftsorientierte und moralisch nachhaltige Lösungen bieten, die nicht populistisch sind, aber populär sein können.

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau verfolgt diesen Ansatz ebenso wie der französische Präsident Emmanuel Macron. Die strauchelnden Mitte-links-Parteien in ganz Europa sollten diesem Beispiel folgen und erkennen, dass eine solche Neupositionierung womöglich der Schlüssel zum politischen Überleben ist. (Michael Bröning, aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 21.6.2018)