Angriffslustig: Muharrem İnces Auftritte sind stark besucht, seine Attacken auf Erdoğan vielbeachtet.

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Der Moderator hält einen Teller mit einer Kartoffel und einer Zwiebel in die Kamera, und Muharrem İnce hat schon das nächste Stichwort für seine Dauerattacke gegen die Regierung. Es könnte gar nicht besser laufen für den Präsidentenkandidaten der türkischen Opposition.

"Jetzt gibt es also die Zwiebellobby!", höhnt der großgewachsene Mann. Es ist eine Anspielung auf die vielen Verschwörungstheorien des türkischen Staatschefs Tayyip Erdoğan, vor allem auf die "Zinslobby", die angeblich irgendwo im Ausland sitzt und an den Börsen gegen die Türkei spekuliert. Jetzt aber, so kurz vor dem Wahlsonntag, sind die teuer gewordenen Zwiebeln und Kartoffeln das Tagesgespräch in der Türkei. Noch eine Torvorlage für Erdogans Herausforderer Muharrem Ince.

Sechseinhalb Lira kostet das Kilo Zwiebeln jetzt, sechs Lira die Kartoffeln. "Die Zwiebeln haben den Dollar überholt", stellt Ince im Morgenfernsehen fest, "sie sind noch mehr Wert als der Dollar." So verrückt ist die türkische Wirtschaft bereits, will der Oppositionspolitiker damit sagen. Das versteht das Volk.

"Bam, bam, bam"

25 Prozent ihres Werts hat die Lira allein seit Beginn des Jahres verloren. Bei 4,60 für einen Dollar steht sie in diesen Wochen. Auch die Inflation ist noch viel höher als die offiziell angegebenen zehn Prozent. 30 Prozent, etwa bei Lebensmitteln, kommt der Sache schon näher. "Warum ist das so?", will der TV-Moderator wissen. "Weil die Türkei nichts produziert", behauptet İnce. "Diese Türkei ist am Versinken. 453 Milliarden Dollar Schulden haben wir." So redet Muharrem İnce. Einfach und kurz. Und immer gegen Tayyip Erdoğan, den autoritären, müde wirkenden Präsidenten. "Bam, bam, bam" nennen türkische Kommentatoren İnces Stil.

Es dauert keine zwei Stunden an diesem Donnerstagmorgen, da sitzt Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi schon im Studio eines anderen Senders und versucht, İnce Paroli zu bieten. Doch was er dort erzählt, macht es nur noch schlimmer für die Regierung.

"Bei Zwiebeln und Kartoffeln lassen wir keine Preisspekulationen zu", erklärt Erdoğans Minister, "unser Kampf hat heute begonnen." Und Zeybekçi hat auch etwas zu verkünden. "Wir werden Einfuhrgenehmigungen für diese Produkte erteilen", sagt er. Doch der Minister bestätigt damit genau das, was İnce, der Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP), gerade behauptet hat: Das riesige Agrarland Türkei ist offenbar nicht in der Lage, ausreichend Zwiebeln und Kartoffeln für den eigenen Markt zu produzieren.

Es läuft bis zum Schluss dieses Wahlkampfs nicht rund für Tayyip Erdoğan, seine konservativ-islamische AKP und deren rechtsgerichteten Juniorpartner MHP. Doch Muharrem İnce, der 54 Jahre alte Politiker der größten Oppositionspartei CHP, gilt als die Überraschung. Dass er ein Angreifertyp ist, hat İnce schon in seiner Zeit als Fraktionschef der Kemalistenpartei im Parlament in Ankara unter Beweis gestellt. Zweimal aber scheiterte İnce dann auf Parteitagen mit dem Versuch, den sehr viel ruhigeren Vorsitzenden Kemal Kiliçdaroğlu zu entthronen, zuletzt im Frühjahr dieses Jahres. Als Erdoğan dann im April die eigentlich für Ende 2019 geplanten Präsidenten- und Parlamentswahlen vorzog, ließ Kiliçdaroğlu seinem parteiinternen Rivalen den Vortritt. İnce, der Abgeordnete aus Yalova am Marmarameer, war fortan nicht mehr zu bremsen.

Der Wahlkampf sei genau richtig für den ehemalige Physiklehrer, nicht zu lang, nicht zu kurz, sagen politische Beobachter. Niemand frage wirklich nach, wie solide und finanzierbar all die Versprechen sind, die Ince täglich landauf, landab auf seinen stark besuchten Wahlkampfveranstaltungen macht. Dafür galoppiert dieser Wahlkampf viel zu schnell voran. Andererseits war Zeit genug, dass Ince diesem Wettrennen seinen Stempel aufdrückte: Er ist volksnah, wo Erdoğan mittlerweile abgehoben und entrückt wirkt; er ist schlagfertig und energisch, während der seit 15 Jahren regierende Erdogan zunehmend wütend und ratlos auf seinen wichtigsten Herausforderer reagiert.

Ohne Parteiabzeichen

İnce drängte Meral Aksener, die Kandidatin der neuen rechtsnationalen Guten Partei, in den Hintergrund. Wenn jemand am Sonntag Erdogan in eine zweite Wahlrunde für das Amt des Staatspräsidenten zwingen kann, so sagen viele Umfragen, dann ist es Muharrem İnce. Auch İnce bedient das nationalistische Wählerlager in der Türkei. Das CHP-Abzeichen am Revers seines Sakkos hat er gleich zu Beginn des Wahlkampfs gegen das Emblem einer türkischen Fahne ausgetauscht. Der Kandidat aller türkischen Bürger ist er, soll das heißen. Ob das am Ende reicht gegen Erdoğan, ist fraglich. İnce aber glaubt an seinen Sieg. (Markus Bernath, 22.6.2018)

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