"Die Mannschaft" interpretierte Joachim Löws Dominanzfußball nach Ansicht der "Zeit" gegen Mexiko als "Ballbesitzverlustangstfußball". Und was wird aus ihm gegen Schweden?

Foto: APA/AFP/NELSON ALMEIDA

Deutschland ist in die Jahre gekommen. Das ist unübersehbar gewesen beim Auftakt gegen Mexiko. Die einst strahlenden Buben, die 2006, bei der zum "Sommermärchen" stilisierten Heim-WM begonnen haben, einen neuen, so wunderschön anzusehenden deutschen Fußballstil zu kultivieren und 2014 Weltmeister wurden, sind zu alten, müde wirkenden – oder gar seienden – Männern geworden.

Ein erstaunlich träges Mittelfeld mit den Weltstars Toni Kroos (Real Madrid), Sami Khedira (Juventus) oder Mesut Özil (Arsenal) produzierte unterm Druck zudringlich herumwuselnder Mexikanern zahlreiche – ganz ungewohnte – Fehlpässe. Die Folge war, dass der Angriff nicht angriff; die Verteidigung nicht verteidigte. Deutschland war nicht mehr wiederzuerkennen.

Feuer am Dach

In Watutinki – was für ein wunderbarer Name für eine einstige Bonzensommerfrische – war klarerweise Feuer am Dach, das von deutschen Zeitungen, sozialen Medien und den eigenen Gewissensbissen gerne mitgenommen wurde nach Sotschi, wo es am Samstag gegen Schweden (20 Uhr, live ORF 1) schon ums Sein oder Nichtsein geht. Bis ins Persönliche sengt und brennt dieses Feuer. Mats Hummels, der nach der Auftaktniederlage seine Vordermänner harsch kritisierte, kassierte seinerseits ordentlich, sodass er nunmehr "keine Lust mehr auf inhaltliche Kritik" hat. Zum großen ZDF-Gespräch im Quartier in Sotschi schickte man Spaßnudel Thomas Müller, der da aber auch nur den Eindruck vermitteln konnte: Es knistert nicht, es knirscht in "la Mannschaft", wie die Franzosen respektvoll sagen.

In den deutschen Feuilletons ist schon reichlich hingewiesen worden auf die erstaunlichen Gemeinsamkeiten von Teamchef Joachim Löw und Angela Merkel, deren erste wirklich bedeutende Amtshandlung quasi jenes Sommermärchen 2006 gewesen ist, aus dem Löw von der Assistentenstelle bei Jürgen Klinsmann äußerst erfolgreich ins große Rollenfach hineinwachsen konnte. Löw darf sich nun ebenbürtig nennen mit solchen Giganten wie Sepp Herberger oder Helmut Schön. (Zu Franz Beckenbauer natürlich nicht. Aber auch hierin gleicht Löw Merkel, die sich wohl nie herausnehmen würde, sich auf dieselbe Stufe zu stellen wie Horst Seehofer.)

Merkels Raute

Hätte Joachim Löw nicht so selbstständig agierende Hände, er würde auf oder neben der Trainerbank wohl auch die Raute formen. In seinen öffentlich zugänglichen Äußerungen tut er das sowieso. Tatsächlich sagte er nach dem 0:1 gegen Mexiko: "Wir schaffen das." Fürs nächste Spiel verheißt das nicht unbedingt was Gutes. So wie Merkel neigt auch Löw zu einer gewissen Prinzipientreue. Ungeachtet der Tatsache, dass die Gegner sich auf dieses Prinzip längst haben einstellen können. Die Mexikaner haben das vorbildlich gelöst. Geradezu überfallsartig attackierten sie die behäbigen Deutschen, die sich verhielten wie einst die Entourage des Habsburgers Maximilian: blasiert wirklichkeitsblind bis zur Selbstaufgabe.

Das Beste, das der englische "Guardian" diagnostizierte an "the nationalmannschaft": Die habe zu Beginn das Spiel schön breit gemacht. Und so war es. Die Breite aber war nie die Stärke der strahlenden Buben. Das war stets die daraus sich so schnell wie möglich ergebende Tiefe. Iberisches Scheiberln entlang der 20er-Linie war das deutsche Wesen nie. Nun aber sprach man schon im Vorfeld von den Vorzügen deutschen Ballbesitz- und damit deutsch deklinierten Dominanzfußballs. Das klang nur deshalb nicht überheblich, weil Löw halt Löw ist.

An der Wand

Die ansonsten nur wenig fußballaffine "Zeit" fragt: "War das Ballbesitzfußball?" Und gibt die zutreffende Antwort: "Das war Ballbesitzverlustangstfußball." Löws altgewordenen Buben hätten "das Spiel in einen Analyse- und Verwaltungsvorgang übersetzt, der in all seinen Akten komplette Kontrolle suggeriert – nur hatte das, was dann auf dem Spielfeld passierte, nichts mit Kontrolle zu tun." Hat Peter Kümmel, der Autor dieser Trefflichkeit, damit die Löw'sche Dämmerung beschrieben? Oder die von Merkel?

Den Schweden, denen in der Qualirelegation immerhin Italien zum Opfer gefallen ist, kommt das sehr zupass. Selber geschurigelt durch die mediale Omnipräsenz des emeritierten Zlatan Ibrahimović, freuen sie sich über den Schatten, den die deutsche Selbstbespiegelung wirft. Der deutsche Altstar Stefan Effenberg: "Schweden hat die Deutschen an der Wand." Wahrheitsbeweis am Samstag, 20 Uhr. (Wolfgang Weisgram, 22.6.2018)

WM in Russland, Gruppe F, 2. Runde, Samstag

Deutschland – Schweden
Sotschi, Fischt-Arena, 20 Uhr, live ORF 1, SR Marciniak (POL)

Mögliche Aufstellungen:

Deutschland: 1 Neuer – 18 Kimmich, 17 Boateng, 5 Hummels, 3 Hector – 6 Khedira/21 Gündogan, 8 Kroos – 13 Müller, 10 Özil, 11 Reus – 9 Werner

Ersatz: 12 Trapp, 22 ter Stegen – 2 Plattenhardt, 4 Ginter, 15 Süle, 16 Rüdiger, 7 Draxler, 14 Goretzka, 19 Rudy, 20 Brandt, 23 Gomez

Schweden: 1 Olsen – 2 Lustig, 18 Jansson/3 Lindelöf, 4 Granqvist, 6 Augustinsson – 17 Claesson, 8 Ekdal, 7 Larsson, 10 Forsberg – 9 Berg, 20 Toivonen

Ersatz: 12 Johnsson, 23 Nordfeldt – 5 Olsson, 14 Helander, 16 Krafth, 13 G. Svensson, 15 Hiljemark, 19 Rohden, 21 Durmaz, 11 Guidetti, 22 Thelin